Wachsen lassen
Ja, ihr lest richtig, dieser Beitrag ist heute mal keine Wachstumskritik. Genauer: Er ist keine pauschale Wachstumskritik. Denn was ich z.B. über das er-wachsen werden geschrieben hatte, bezieht sich auf das natürliche Wachstum eines Lebewesens. Das ist zwar einerseits irgendwann zu Ende, bis dahin wächst das Lebewesen sehr wohl, und zwar aus seinem eigenen Impuls heraus. Wir haben uns mit unseren Wachstums_zwängen_ eine Welt geschaffen, die mit allen Mitteln diese simple Tatsache zu vertuschen sucht:
Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht.
Menschen tun das auch nicht, wenn man versucht, sie zu er-ziehen. Wobei “Erziehung” nicht in erster Linie dazu dient, dass sie schneller wachsen, sondern dass sie in eine bestimmte Richtung wachsen.
Ich habe gerade The Murder of Christ von Wilhelm Reich gelesen. Erst auf den letzten paar Seiten fiel es mir dann wie Schuppen von den Augen, dass unsere Kultur das natürliche, innengesteuerte Wachstum unterdrückt wo sie nur kann, und dafür auf künstliche, äußere Wachstumszwänge und -anreize setzt.
Wir haben versucht, durch Drücken, Schieben und Ziehen künstliches Wachstum zu erzeugen, und damit ein System geschaffen, das genauso an uns selbst zieht, uns schiebt und drückt (das Hamsterrad). Wenn ich bisher Trauma als Motor des Kapitalismus ausgemacht habe, so kann ich das jetzt auf eine breitere Basis stellen und sagen: die emotionelle Pest ist der Motor des Kapitalimus, wie auch des “real existierenden Sozialismus” (der ja genauso wachstumsversessen war wie der Kapitalismus).
Denn wenn natürliches Wachstum gehindert wird, suchen wir nach künstlichen Methoden des Wachstums, die notwendigerweise außengesteuert durch Zwang oder durch “Incentives” funktionieren. Loben dient genauso der Fernsteuerung von Menschen wie Bestrafen. Gerade diese Verhinderung des natürlichen Wachstums hat das Hamsterrad erst in Gang gesetzt. Wie das im Einzelnen vor sich ging, könnt ihr hervorragend aufbereitet bei Hanne Vonier in ihrer Serie zur Entstehung des Patriarchats nachvollziehen.
Worauf Reich sehr eindringlich hinweist: Da wir uns nun mal unsere Gesellschaft über Jahrtausende hinweg so eingerichtet haben, dass gepanzerte Menschen darin viel besser zurecht kommen als voll lebendige Menschen, ist das ein sich selbst verstärkender Prozess und deshalb nicht in kurzer Zeit umzukehren. Ich war auch erstaunt, dass er als Begründer der bioenergetischen Therapie ganz klar sagt, ein erwachsener gepanzerter Mensch kann nicht mehr vollständig lebendig werden, der Charakterpanzer ist ein integraler Bestandteil dieses Menschen geworden. Deshalb sieht er die einzige Chance, dass sich irgendwann wieder ein Großteil der Menschen im natürlichen Lebensfluss entwickelt, darin, die Kinder frei aufwachsen zu lassen.
Denn das natürliche Wachstum ist Selbstorganisation des Lebens, Autopoiesis, Entwicklung aus inneren Impulsen des lebenden Wesens selbst. Hannelore Vonier beschreibt das gut in ihrem Artikel über selbstregulierte Kinder. Das Continuum-Konzept von Jean Liedloff gehört hier ebenfalls hin. Und ein Lebewesen lässt sich in seinem Wachstum, in seiner Entwicklung von seinen Bedürfnissen leiten.
Jedenfalls war es für mich sehr ernüchternd, dass Wilhelm Reich für dieses Projekt 2-3000 Jahre veranschlagt. Und es ist bezeichnend, dass z.B. Otto Scharmer in seiner doch ziemlich umfassenden Vision gerade die Kinder ausblendet. Lieber Herr Scharmer, wir werden das nicht in dieser und auch nicht in der nächsten Generation hinkriegen. Vielleicht in sieben Generationen, was ja der zeitliche Horizont mancher Indianerstämme ist. Zumindest wird man in sieben Generationen hoffentlich deutliche Fortschritte erleben können.
Gerade ich als Kriegsenkel sollte eigentlich wissen, was das für ein gigantisches Unterfangen ist. Fehlte mir da vielleicht schlicht das Vertrauen in die Kräfte des Lebens? Wollte ich selber auch an den Menschen ziehen, sie aus dem Hamsterrad rausziehen? Den Schritt daraus können sie nur selber tun, aus eigenem Antrieb. Immerhin mache ich ja eine Ausbildung in _Prozess_arbeit. Der Prozess ist etwas, das von sich aus geschieht. Diesen Prozess kann ich nur begleiten, ihm beiwohnen, vielleicht mal rein- oder rauszoomen und einzelne Elemente verstärken. Machen kann ich ihn nicht. Ich werde mich also weiterhin verneigen und nach innen lauschen. Ist auch genau die richtige Jahreszeit dafür.
Ich schließe mit diesem Satz Wilhelm Reichs:
Wahrheit ist voller, unmittelbarer Kontakt zwischen dem Leben, das wahrnimmt, und dem Leben, das wahrgenommen wird.
Update vom 19.05.2015: Gerade habe ich ein Gedicht von Rainer Maria Rilke entdeckt, das nachträglich den Titel Über die Geduld bekommen hat:
Man muss den Dingen die eigene, stille ungestörte Entwicklung lassen, die tief von innen kommt und durch nichts gedrängt oder beschleunigt werden kann, alles ist austragen – und dann gebären…
Reifen wie der Baum, der seine Säfte nicht drängt und getrost in den Stürmen des Frühlings steht, ohne Angst, dass dahinter kein Sommer kommen könnte.
Er kommt doch!
Aber er kommt nur zu den Geduldigen, die da sind, als ob die Ewigkeit vor ihnen läge, so sorglos, still und weit…
Man muss Geduld haben
Mit dem Ungelösten im Herzen, und versuchen, die Fragen selber lieb zu haben, wie verschlossene Stuben, und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache geschrieben sind.
Es handelt sich darum, alles zu leben. Wenn man die Fragen lebt, lebt man vielleicht allmählich, ohne es zu merken, eines fremden Tages in die Antworten hinein.