Postwachstum - es ist Zeit, er-wachsen zu werden
Schon wieder hat mich Charles Eisenstein auf einen Zusammenhang gebracht, der, wenn er denn dann mal dasteht, eigentlich nahe liegt. Er betrachtet nämlich die Menschheit als ein organisches Ganzes. Aus dieser Sichtweise sind wir gerade am Ende der Pubertät angekommen, die Menschheit ist noch jugendlich & gerade dabei, er-wachsen zu werden:
Bis jetzt waren wir Menschen wie Kinder in der Beziehung zur Erde. Es begann im Schoß der Erde, als wir in unserer Jäger- und Sammlerexistenz nicht zwischen Mensch und Natur unterschieden, sondern in sie eingebettet waren. Ein Neugeborenes kann kaum zwischen sich und der Welt unterscheiden. Es braucht Zeit, um eine Identität und ein Selbstgefühl zu entwickeln und zu lernen, dass die Welt kein Körperteil von ihm ist. So war das auch für die Menschheit. Während der Jäger und Sammler keine Vorstellung von einer getrennten “Natur” hatte, die sich vom “Menschlichen” unterschied, lernten die Menschen, die Ackerbau und Viehzucht betrieben, die Natur als eine getrennte Kategorie zu begreifen – hing doch ihr Wohlergehen davon ab, dass sie die Natur zum Objekt machten und manipulierten. In den agrarischen Zivilisationen, während ihrer „Kindheit“, entwickelte die Menschheit eine eigenständige Identität und wurde groß. Unser pubertärer Wachstumsschub erfolgte im Industriezeitalter. Und auf geistiger Ebene erreichten wir durch die objektivierende Wissenschaft einen Zustand der äußersten Getrenntheit, entwickelten ein voll ausgeprägtes Selbstgefühl mit der Hyperrationalität des Teenagers. Dieser schließt die letzte Phase der kognitiven Entwicklung ab, das formal-operationale Denken, das ihn dazu befähigt, abstrakte Inhalte zu verarbeiten – wie auch die Menschheit, als sie in das Zeitalter der Wissenschaft eintrat. Aber wie das äußerste Yang die Geburt des Yin beinhaltet, so trägt das äußerste Stadium der Getrenntheit in sich schon den Samen für das, was als nächstes kommt: die Wiedervereinigung.
Auch das Wirtschaftswachstum betrachtet er als Bestandteil des Aufwachsens der Menschheit, das sich nun seinem Ende nähert. In meinen Augen ergibt das sehr viel Sinn. In der Natur gibt es ja immer und überall Wachstum, aber jeweils nur bis zu dem Punkt, an dem es vollendet ist, bis also das Lebewesen ausgewachsen ist. So sieht die Kurve der Logistischen Funktion aus, die natürliches Wachstum sowohl einzelner Lebewesen als auch ganzer Populationen modelliert:
Was mit dem Erwachsen werden ebenfalls zusammenhängt, ist Verantwortung. Als Kinder und auch noch (in abnehmendem Ausmaß) als Jugendliche gilt der Spruch “Eltern haften für ihre Kinder”. Sobald du volljährig bist, aber nicht mehr. Dann musst du selbst deinen Kopf hinhalten, wenn du Mist gebaut hast, musst deine Entscheidungen selbst verantworten. So gesehen sind Kapitalgesellschaften, Gesellschaften mit beschränkter Haftung, buchstäblich jugendlicher Leichtsinn. Den können wir uns inzwischen nicht mehr erlauben. Leute, wir sind erwachsen!
Otto Scharmer nennt es den Übergang vom Ego-System-Bewusstsein zum Öko-System-Bewusstsein.
Der gute alte Don Juan Matus formuliert es mal wieder drastisch:
Die Verantwortung für seine Entscheidung übernehmen, heisst bereit sein, für sie zu sterben.
Das ist wahre Verantwortung.
Und weil es schon im Titel des Buches steht, darf natürlich der Hinweis auf Ich liebe dich gerade. Erwachsen werden in Liebesdingen nicht fehlen. Auch das ist eine sowohl individuelle wie kollektive Angelegenheit und Teil des allgemeinen Erwachsenwerdens.
Gerade in hohen Management-Positionen sammeln sich narzisstische Persönlichkeiten, die z.B. Klaus Eidenschink coacht. Dazu gibt es eine Diskussion über Narzissmus und Gesellschaft mit ihm auf YouTube. Leute wie er machen einen extrem wichtigen Job für das Erwachsenwerden der Menschheit. Und für mich kristallisiert sich nach & nach heraus, dass ich genau diesen extrem wichtigen Job auch machen will.
Nachtrag vom 27.11.2019: Die Purpose Economy liefert eine Alternative dazu, alle Kapitalgesellschaften komplett abzuschaffen – es könnte auch reichen, sie allesamt in Purpose-Gesellschaften umzuwandeln, also in Unternehmen, die komplett sich selbst gehören.