Das Hamsterrad als mentale Infrastruktur
Beim Mittagessen im Konzeptwerk Neue Ökonomie bekam ich den Hinweis auf Harald Welzer und dessen Konzept von Mentalen Infrastrukturen. Der Untertitel “Wie das Wachstum in die Welt und in die Seelen kam” sagt, wohin die Reise geht.
Sein Aufsatz ist eine so hervorragende Ergänzung zu meinen Hamsterrad-Überlegungen, dass ich hier ein paar Auszüge daraus wiedergebe, zunächst aus dem Vorwort:
Das Wachstum als Wille und Vorstellung herrsche nicht nur in Konzernzentralen, an Börsen oder in Ministerien, argumentiert der Autor, sondern auch in unseren Köpfen. Die materiellen Güter dienten längst nicht mehr alleine den elementaren Bedürfnissen wie Nahrung, Wohnen, Gesundheit, Bildung und Vitalität. Materielle Güter sagten auch etwas aus über den sozialen Status und über Beziehungen, über kulturelle Vorlieben. Tatsächlich prägen sie Zugehörigkeit und Identität. Wir kennen sie alle: die Lust nach etwas Neuem, nach steigendem Einkommen, nach Besitz, nach immer exotischeren Urlaubsreisen. Die Vorstellung vom «unendlichen Wachstum» ist seit der industriellen Revolution gleichsam in unseren emotionalen und kognitiven Haushalt eingebettet, so Welzer. Das äußert sich etwa in Karrierewünschen und Aufstiegsplänen im Job, ebenso in der Selbstfindungssuche nach dem «wahren Ich» oder einer «höheren Erkenntnisstufe». Der moderne Mensch ist der Schmied seines eigenen Glückes, er will etwas aus seinem Leben machen, und zwar nicht nur einmal, sondern immer wieder aufs Neue, um stetig seine Zufriedenheit zu steigern.
Aus dem dritten Kapitel:
Es ist die historische Konstellation aus früher Industrialisierung, Aufklärung, protestantischer Rechenschaftskultur, Berufsförmigkeit und Kreditwirtschaft, in der jene Mentalitäten und Identitätsformationen sich ausgebildet haben, die unsere Selbst- und Weltwahrnehmung, unsere Deutungsmuster und Lebensziele auch heute in der Tiefe prägen. Die Verinnerlichung dessen, was man sein kann und sollte, ist nun freilich nicht nur eine Befreiung aus den äußeren Zwängen der Positionalität gewesen, sondern sie ging einher mit ganz neuen, zuvor unbekannten Orientierungsnotwendigkeiten und Lasten: Kategorien wie Selbstverantwortung, Disziplin, Wille werden in dem Augenblick für heranwachsende Individuen bedeutsam, wo man nicht nur «etwas aus sich machen» kann, sondern eben auch muss. Denn wie der Lohnarbeiter frei ist, sich jenseits feudaler Zwänge dort zu verdingen, wo es für ihn am günstigsten ist, so ist er, wie es bei Marx heißt, zugleich frei, «seine Haut zu Markte zu tragen» – also auch den Orientierungs- und Versorgungssicherheiten der unfreien Existenz entbunden.
Interessant dabei ist, dass sich mit der Herausbildung solcher «innerweltlicher Askese» zugunsten der Kontrolle und Werthaltigkeit jeder Lebenseinheit zugleich der Stellenwert der Produkte wie auch die Qualität der für ihre Herstellung erforderlichen Arbeit verändert: Dem vorindustriellen Handwerker wie dem Künstler ging es ebenso wie ihrem Auftrageber um die Erstellung eines spezifischen Gegenstands oder Werkes. Die Arbeit war mit der Fertigstellung beendet und wurde auch exakt dafür entgolten – fand also ihren Zweck im finalen Produkt, das vom Auftraggeber konsumiert wurde wie der Lohn vom Auftragnehmer. In der industriellen Produktion geht es dagegen keineswegs mehr um die Herstellung des einzelnen Produkts als eines Zweckes an sich und um die Arbeit als Mittel zur Erreichung dieses Zwecks, sondern um ein System, in dem unablässig gearbeitet wird, um eine prinzipiell unendliche Reihe von Produkten zur Gewinnung von Mehrwert zu generieren – also von investivem Kapitel, dass sofort wieder in die Verbesserung der Produktion oder Erweiterung der Produktpalette gesteckt wird, um den Unendlichkeitshorizont noch weiter hinauszuschieben. Nichts ist jemals fertig, die Arbeit hört niemals auf. In diesem Modell liegt nicht nur eine Verkehrung der Mittel und Zwecke – Arbeit und Geld werden zum Zweck, die Produkte und ihre Herstellung bloße Mittel –, sondern auch die prinzipielle «Unabschließbarkeit des Tuns» und eine grundsätzliche «Vergeblichkeit von Produktion» (Vogl 2008, S. 336). Hier liegt, wie man sieht, nicht nur die Wurzel der Vorstellung vom grenzenlosen Wachstum, das zur Ausstattung des grenzenlosen Universums der konsumierbaren Dinge nötig ist, sondern auch der Urgrund für die Mentalität eines niemals fertigen, eines immer wachsenden Menschen – eben des ökonomischen Menschen.
(Hervorhebung von mir)
Mit einem Wort: Das Hamsterrad. Michael Ende hat dieses Denken in Gestalt der Grauen Herren eindrücklich gezeigt. Und mein Lob des (Fiat-)Geldes als Ticket in die Unendlichkeit gehört hier auch hin.
Weiter geht es mit dem Arbeitsbegriff, wie er sich auch in der Wirtschaftstheorie durchgesetzt hat:
Und genau in dieser Gestalt geht Arbeit in die nationalökonomische Theoriebildung ein: als eine in sich unbegrenzte endlose Tätigkeit, die kein spezifisches, abgegrenztes, im Produkt aufgehobenes Ziel hat, sondern der unablässigen Schöpfung von Wert dient – mithin der nie endenden Produktion von «Wachstum». Diesen Vorgang hat Marx mit dem Verschwinden der konkreten Arbeit im Tauschwert bezeichnet.
Herbert Grönemeyer singt “Stillstand ist der Tod”. Das singt er so, als sei Stillstand etwas Schlechtes, etwas zu Vermeidendes. Allerdings lässt sich der Tod nicht vermeiden.
Welzer schreibt dazu:
Aber die Kategorie der Endlichkeit ist dieser Kultur so unheimlich wie der eigene Tod dem Individuum. Beides ist kulturell nicht vorgesehen – sonst könnte man wohl kaum noch allen Ernstes «lebenslanges Lernen» propagieren – hilft das dabei, mit den Würmern im Grab besser zurechtzukommen?
Jetzt kommt der Grund, warum dieser Beitrag auch das Tag “Achtsamkeit” hat:
Wichtig ist dabei, dass diese Verflüssigungstendenzen den Gegenwartsmoment zugleich immer bedeutsamer und immer fluider machen: jede Station in der Gegenwart ist immer schon putative Durchgangsstation für etwas, was danach kommt. In der Gegenwart ist man daher nicht da, sondern nur auf der Durchreise.
Das erklärt auch, warum wir uns so sehr bemühen (müssen), “im Hier und Jetzt” zu sein, was in früheren Zeiten ganz normal war.
Wegen der Fixierung auf Unendlichkeit tritt das Konsumieren, das ja ein (endgültiges!) Ver-Brauchen ist, immer weiter in den Hintergrund:
Nicht zufällig gilt es heute als Freizeitvergnügen, «shoppen» zu gehen, und nicht zufällig werden viele Produkte, die in den reichen Gesellschaften gekauft werden, gar nicht mehr konsumiert.
Tatsächlicher Konsum erinnert uns immer wieder daran, dass das Konsumierte danach nicht mehr vorhanden ist. Man könnte sagen, das Konsumgut stirbt durch unseren Konsum & erinnert uns damit an die eigene Sterblichkeit. Deshalb rennen wir lieber noch schneller in unserem Hamsterrad. Das gibt uns schließlich unsere Identität:
Genau deshalb aber, weil Konsumgesellschaften Sinn über die Gewährleistung von Konsummöglichkeiten und Aufstieg realisieren, stehen sie vor einem existentiellen Problem, wenn ihnen dafür die Mittel ausgehen – wie es in der Finanz- und Wirtschaftskrise kurzzeitig der Fall zu sein schien. Und das ist insgeheim das, was den Leuten Angst macht: dass alles sinnlos war, was man sich aufgebaut, worauf man hingearbeitet, wofür man sich vorausentworfen und woran man geglaubt hatte. Die Formate von Sinn und Identität, die kapitalistische Gesellschaften des westlichen Typs liefern, stehen und fallen mit dem Funktionieren des Marktes.
Wer diesen Sinn verinnerlicht hat, für den kommt Karriereverzicht einem Selbstmord gleich, und Kapitalismuskritik wird sofort persönlich genommen.
Aus dem Hamsterrad auszusteigen, ist eine riesengroße Herausforderung:
Das täglich neu aufgeblätterte Journal aller verfügbaren Dinge bildet ein selbstevidentes Universum, gegen das schwerlich anerzählt werden kann, vor allem, weil der größte Anteil der mentalen Infrastrukturen eben gar nicht reflexiv, keine Frage von Wahl und Entscheidung und gar kein Angebot ist, sondern schlicht eine massiv so-seiende Welt, in die man hineingeboren wird und deren Geschichte über sich selbst man pausenlos mit seiner eigenen Biographie, seinen Werten, seinen Konsumentscheidungen, seiner Karriere weitererzählt. Über diese Qualität der mentalen Infrastrukturen muss man sich bewusst sein, wenn man sich daran machen möchte, sie zu verändern. In gewisser Hinsicht sind sie, zumal wenn der materielle Reichtum so groß und die gesellschaftliche Benutzeroberfläche so attraktiv ist wie in den frühindustrialisierten Gesellschaften, sogar massiver als die materiellen Infrastrukturen, von denen sie geprägt sind.
Da hilft nur Bewusstseinserweiterung, was ebenfalls eine Form des Wachstums ist, allerdings mit einer anderen Zielsetzung.
Denn zumindest körperlich ist die Menschheit längst ausgewachsen, kommt allerdings geistig nicht hinterher:
Die Nachricht ist nicht neu: Wir befinden uns am Ende eines 200 Jahre lang extrem erfolgreichen Lebens- und Wirtschaftsmodells, das unter alten Bedingungen ganz prächtig funktioniert hat. Diese alten Bedingungen existieren nicht mehr.
Die alten Bedingungen, das war die Verfügbarkeit eines ganzen Planeten für einen kleinen Teil der Menschheit und seine Wirtschaftsform. Mit Hilfe von Ressourcen aus aller Welt konnten die Industriestaaten eine phantastische Zivilisationsmaschine betreiben: eine Maschine, die mit fossilen Energien läuft, und Gesundheits- und Versorgungssysteme, sozialen Frieden, Sicherheit, Bildung, Wissenschaft und Rechtsstaatlichkeit hervorbringt. Dass diese Maschine unser Klimasystem aus dem Gleichgewicht bringen würde, hat kaum jemand geahnt und wollen bis heute die wenigsten hören. Etwas anderes schon: Diese Form des Wirtschaftens, das immer ein Außen braucht, aus dem es Ressourcen bezieht, implodiert in dem Augenblick, in dem sie sich globalisiert.
Interessanterweise setzt unsere Produktionsweise allerdings ganz auf die Endlichkeit der Produkte, sie gestaltet “von der Wiege bis zur Bahre” anstatt von der Wiege bis zur Wiege (Cradle to Cradle). Dabei kann doch nur eine Kreislaufwirtschaft auf einem endlichen Planeten unendlich lang existieren.
Zum Schluss wird klar: Die Transformation zur Post-Wachstumsgesellschaft ist kein Projekt, das Ökonomie und Technologie bewältigen könnten. Beide sind nur so klug oder so dumm wie die politische Figuration, in der sie wirksam werden. Der notwendigen Transformation fehlt es einstweilen an Leitvorstellungen, wie sie die frühindustrialisierten Gesellschaften in den Kategorien Fortschritt, Freiheit, Wohlstand und eben im Wachstum hatten. Die Etablierung neuer mentaler Infrastrukturen kommt nicht ohne neue Leitvorstellungen aus, aber wenn diese sich eben nicht quasi-natürlich in die Alltagsvollzüge und Lebensstile, in die Selbstkonzepte und Zukunftshorizonte einschreiben, bleiben sie nur das: Vorstellungen.
Solche von ihm geforderten Leitvorstellungen liefert beispielsweise Charles Eisenstein, buen vivir oder die Commons-Bewegung.
Und, noch einmal: Bewusstseinserweiterung hilft, um aus dem Hamsterrad auszusteigen.
Update vom 22.11.: Das Hamsterrad im Bereich der Software besteht aus der ständigen Flut von _Updates. Welcher Programmierer hat heutzutage noch den Mumm, eine bestimmte Software irgendwann für fertig zu erklären? Das tun offensichtlich nur die ganz großen Programmierer-Geister wie Donald Knuth oder Daniel J. Bernstein (siehe auch the djb way). Für alle anderen gilt, wie Welzer schreibt: Nichts ist jemals fertig, die Arbeit hört niemals auf.