Freiheit ist der Abstand zwischen Reiz und Reaktion
Dieser Beitrag ist der dritte Teil zur Theorie von Vipassana und zugleich die Fortsetzung zum inneren Anarchismus. Wir kommen heute zum Kern von Vipassana, dem Auflösen der Anhaftung, und damit der Befreiung vom Leiden.
Wie ich schon zum inneren Anarchismus schrieb, ist die Selbstbefreiung ein paradoxes Unterfangen, denn sie erfordert unbedingte Selbstdisziplin. Das zeigt sich beim Vipassana sehr deutlich. Rein äußerlich begibt man sich in große Unfreiheit, unterwirft sich für 10 Tage äusserst strengen Regeln (die auch bei Panyasara gelten). Goenka spricht in einem seiner Vorträge sogar von einem Gefängnis. :)
Das liegt daran, dass wir uns in aller Regel über viele Jahre unseres Lebens selbst versklavt haben, uns selbst in das Hamsterrad als mentale Infrastruktur gesteckt haben. Dieses Hamsterrad lässt sich mit einiger Berechtigung mit der Kette des bedingten Entstehens im Buddhismus gleichsetzen. Wie der buddhistische Rapper Absztrakkt in Amewus Track Schwarze Sonnen es auf den Punkt bringt:
Die Tür deiner Zelle geht nur von innen auf
Das klingt nun so, als brauche man die Tür einfach nur aufmachen. Im Prinzip ist das auch so, wir sollten allerdings die Macht der Gewohnheit dabei nicht unterschätzen.
Es ist Siddharta Gautamas Verdienst, die tiefsten Anhaftungen an die Empfindungen im jeweils eigenen Körper entdeckt zu haben. Dass wir im Körper etwas empfinden, können wir nicht vermeiden. An dieser Stelle kommen wir aus dem Hamsterrad also nicht heraus. Wir haben aber einen Einfluss darauf, ob wir bestimmte Empfindungen vermeiden oder halten bzw. wiederholen wollen (tanhā). So ist z.B. niemand süchtig nach Alkohol oder Zigaretten, sondern nach den Empfindungen, die durch diese Substanzen ausgelöst werden.
Bei der Vipassana-Meditation übt man daher, sämtliche Körperempfindungen neutral zu beobachten und nicht auf sie zu reagieren. Daher nun die Langfassung der Überschrift dieses Beitrags:
**Bewusstsein ist der Abstand zwischen Reiz und Reaktion.
Darin liegt die Freiheit.**
Daran seht ihr, dass Bewusstsein & Freiheit meist graduell vorhanden sind; je länger der Abstand zwischen Reiz & Reaktion, um so größer das Bewusstsein & die Freiheit. Wenn ich gar nicht reagiere, ist beides unendlich.
Dafür ist der Gleichmut die entscheidende Qualität bei der Meditation.
Auch hier kann ich wieder Don Juan Matus zitieren, der beständig auf Makellosigkeit abzielt, was im Endeffekt das gleiche meint:
Innere Stärke bedeute Gleichmut, beinah Gleichgültigkeit, ein Gefühl der Leichtigkeit, aber vor allem bedeute es eine tiefe, natürliche Neigung zum Forschen und Verstehen. Diesen Charakterzug bezeichneten die neuen Seher als Nüchternheit.
Ebenso geht es beim makellosen Handeln darum, zu agieren statt zu reagieren:
die Fähigkeit, zu handeln, ohne zu glauben, ohne eine Belohnung zu erwarten – einfach drauflos zu handeln.
In dem Moment, in dem ich eine Belohnung erwarte (oder eine Strafe verhindern will), mache ich mich von dem Ergebnis meiner Handlung abhängig und verliere meine Freiheit. Beim Vipassana trainiert man das Nicht-Reagieren auf der tiefsten Ebene der Körperempfindungen. Deshalb ist es so wertvoll, und deshalb unterwirft sich gerade ein Anarchist sehr gerne den äußeren Beschränkungen eines 10-Tage-Kurses.
Weil ich mich in diesem Kurs auch mit Sprache bzw. deren Abwesenheit in Form von Schweigen beschäftigt habe, stellte sich mir die Frage, ob es auch im Bereich der Sprache Anhaftung gibt. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass sprachliche Anhaftung darin besteht, den Objekten unseres Denkens Wichtigkeit zu verleihen. Dass das viel Leid verursacht, zeigt schon die altbekannte Frage will ich Recht haben oder glücklich sein? Je wichtiger mir etwas ist, umso weniger bin ich bereit, es loszulassen. Im Extremfall ziehe ich gegen die Andersgläubigen in den Krieg (siehe auch das Zitat von Ken Wilber). Auch hierzu hat Don Juan deutliche Worte:
“Du nimmst dich zu ernst”, sagte er. “Du bist in deinen Augen zu verdammt wichtig. Das muss sich ändern. Du bist so gottverflucht wichtig, dass du glaubst, das Recht zu haben, an allem Anstoß zu nehmen. Du bist so verdammt wichtig, dass du es dir leisten kannst, abzuhauen, wenn nicht alles so läuft, wie du willst. Mir scheint, du glaubst damit zu beweisen, dass du Charakter hast. Das ist Unsinn! Du bist schwach und eingebildet!”
Und weiter:
Solange du dich für das Wichtigste auf der Welt hältst, kannst du die Welt um dich her nicht wirklich beurteilen. Du bist wie ein Pferd mit Scheuklappen, und du siehst nur dich, losgelöst von allem übrigen.
Dabei ist das morgendliche und abendliche Sitzen für je eine Stunde eine gute Übung. Immer wieder ertappe ich mich dabei, wie ich an die ach so wichtigen Dinge denke, die ich noch zu tun habe. Das ist morgens natürlich noch ausgeprägter. Dann rufe ich mich wieder zurück & erinnere mich daran, dass nichts wichtiger ist, als auf diesem Kissen zu sitzen & die Empfindungen in meinem Körper wahrzunehmen. Das ist auch nicht wichtiger als irgendetwas anderes. Alles ist gleich-gültig. Nun sitze ich aber gerade auf dem Kissen. Und genau darin besteht das Ankommen. Das Tantra drückt es äußerst prägnant aus:
Was hier ist, ist. Was nicht hier ist, ist nicht.
Ich bin ja in diesem zweiten Vipassana-Kurs an den Punkt gekommen, nichts mehr verändern zu wollen. Anders ausgedrückt, habe ich vollkommen aufgegeben. Und paradoxerweise ist genau das die vollkommene Freiheit. Wenn ich mich gegen nichts mehr wehre, was soll mir dann noch zustoßen? Thomas D hat das wunderschön beschrieben in seinem Lied Fluss:
Denn wir sind wunderbare Wesen nur wir reden uns klein Und kommt uns irgendwas entgegen soll es eben so sein Wir sind im Leben daheim, ich bin zu allem entschlossen Und alles was durch diese Türen kommt wird sofort genossen
Unser Wirtschaftssystem und damit auch die massgeblich davon geprägte Kultur führt allerdings geradewegs in die andere Richtung, in Unfreiheit und Sklaverei. Wir drehen am Rad, dem Rad des bedingten Entstehens, dem Hamsterrad. Anstatt die Abstände zwischen Reiz und Reaktion zu verlängern, machen wir sie immer kürzer und konkurrieren mit Maschinen, die ohne Bewusstsein in Nanosekunden auf Reize reagieren. “Immer schneller” ist ein Synonym für “immer unfreier” (siehe auch wenn du es eilig hast, dann gehe langsamer). Liebe Managerinnen & Manager, wenn eure “Qualität” in der Einheit Entscheidungen/Stunde gemessen wird, lasst ihr euch vom System versklaven. Übrigens habe ich vor allem aus diesem Grund bis heute kein Smartphone.
Noch mal zurück zum Wirtschaftssystem: Die neoklassische Wirtschaftstheorie basiert ja sogar in ihrem Kern auf Verlangen und Abneigung. Sie modelliert die Menschen als nutzenmaximierende Roboter, individuelle Freiheit kommt darin überhaupt nicht vor. Aus diesem Grund kritisiert Karl-Heinz Brodbeck die kapitalistische Theorie & Praxis von buddhistischer Warte aus. Ein guter Einstiegsartikel ist „Karmakapitalismus – ein ‚übles’ Spiel“. Und Charles Eisenstein entwirft mit seiner Schenkökonomie das buddhistische Idealbild: Eine Wirtschaft, die ganz auf dāna beruht.
Letzten Endes ist das natürlich alles nicht so wichtig, denn das Ganze hier ist ein kosmischer Witz. Wir können uns also entspannt zurücklehnen & herzhaft lachen:
Update vom 11.04.: Beim erneuten Blättern in Timothy Learys Buch [Neurologik](www.leary.ru/download/leary/timothy leary - neurologik.pdf) fiel mir auf, dass das Grundmuster von Verlangen und Abneigung in seinem Modell im ersten neuronalen Schaltkreis geprägt wird:
Der Lebens-Überlebens-Imprint erfolgt in den ersten Tagen nach der Geburt und fixiert die Dimensionen für “Sicherheit” und “Gefahr” des äußeren Bewußtseins. Dieser grundlegende “AnnäherungsMeidungs”-Gradient beruht auf der dorso-ventralen (Rück- und Vorder-Seite)-Asymmetrie des menschlichen Körpers. Die grundlegende Orientierung dient dazu, das Positive im Angesicht zu haben und das Schädliche zu meiden. Was wir vor uns haben, ist “sicher”, was hinter uns liegt, ist “gefährlich”.
Update vom 28.04.: Heute habe ich mitbekommen, dass ich wegen dieses Beitrags aus der Google+-Gruppe Anarchie - Die selbstbestimmte Lebensform geflogen bin. Da hat wohl einer von den selbst ernannten Anarchisten vergessen, dass Freiheit immer die Freiheit der Andersdenkenden ist.
Update vom 01.04.2016: Jon Rappoport beschreibt in seinem Artikel Updated: the stimulus-response Empire die gesellschaftlichen und globalen Ursachen und Folgen fehlender Freiheit, und dass da tatsächlich ein Krieg um die Bewusstseine tobt.
Nachtrag vom 29.03.2019: Seit einigen Wochen lese ich mit großem Gewinn das Buch Der Ego-Tunnel von Thomas Metzinger. Darin schreibt er u.a. folgenden Satz:
Nicht zu handeln, so scheint es, ist eine der wichtigsten menschlichen Fähigkeiten überhaupt, denn sie ist die Grundvoraussetzung aller höheren Formen von Autonomie.
Nachtrag vom 08.07.2019: Dieser schöne Artikel in der Sein passt auch gut zum Thema – Der Lohn der Geduld ist Geduld.
In der Tradition dieser Weisheit würde man vielleicht zu hören bekommen: „Wenn du es willst, musst du es lassen!“ Geduld galt diesen Weisen als hohe Tugend, als spirituelle Leistung. Der Begriff Geduld bedeutet zweierlei. Zum einen die Fähigkeit, dem, was entstehen will (oder dem, was sich wandeln will), mit Gleichmut die Zeit zuzubilligen, die es dazu eben braucht. Zum anderen steckt in Geduld auch das Wort „dulden“, das heißt, sich nicht von Verdrießlichkeiten aus der Ruhe bringen zu lassen. Genau betrachtet bedeutet das, die Verbundenheit mit dem eigenen Herzen und damit die zur großen Seele nicht aufzugeben, auch wenn etwas schwierig wird.