Wetiko anpirschen
Vor kurzem habe ich ein neues Wort gelernt, aus der Sprache der Cree bzw. der Algonkin: Wetiko oder auch Wendigo. Es beschreibt das Wirken der Megamaschine als eine Art geistiges Virus, ein Mem. Und es ist ein anderer Name für die Gedankenform, die ich nach der Lektüre von Christoph Türcke als “Schuld” bezeichnet hatte. Im Kern von Wetiko steckt die Illusion des Getrenntseins, von der ich hier schon viel geschrieben habe.
Den ersten Kontakt mit diesem indianischen Konzept hatte ich durch den Artikel Seeing Wetiko: On Capitalism, Mind Viruses, and Antidotes for a World in Transition. Dieser wiederum bezieht sich auf ein Buch von Jack D. Forbes und Artikel sowie ein anderes Buch von Paul Levy. Die Autoren des Seeing Wetiko-Artikels betreiben auch eine gleichnamige Website.
Im Artikel schreiben sie, dass der Kern, sozusagen die DNA des Wetiko-Virus, im “globalen Betriebsssystem” der Megamaschine verankert ist. Dazu gehört natürlich das Konzept des homo oeconomicus in der Mainstream-Wirtschaftstheorie. Vergleiche auch die Filme von Lutz Dammbeck oder von Adam Curtis. Die Autoren des Wetiko-Artikel prägen dafür das treffende Wort verteilter Faschismus (distributed fascism).
Das Wirken der Megamaschine als eine geistige Infektionskrankheit zu betrachten, hat einen großen Vorteil: Niemand wird als “böse” deklariert. Die Menschen, die den Kapitalismus propagieren und vorantreiben, sind krank und bedürfen der Heilung, sie sind keine bösen Menschen. Und: es gibt auch fast keine “Guten” in diesem Sinne, denn wir alle, die wir Teil der Wetiko-Kultur sind, sind ebenfalls infiziert, wenn sich die Krankheit bei manchen vielleicht auch schwächer ausprägt. “Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein”. Schon Jack D. Forbes schrieb, dass sich Wetiko z.T. auch von dem Widerstand gegen es ernährt. Dagegen auf herkömmliche Weise ankämpfen, indem man z.B. die Eliten köpft wie in der Französischen Revolution, funktioniert also nicht nur nicht, sondern bewirkt das Gegenteil. Das ist auch logisch, denn gegen etwas kämpfen folgt der Logik der Trennung, die es ja gerade zu überwinden gilt, um Wetiko zu schwächen. Alles gehört dazu. Sie empfehlen übrigens das Schenken als eine Maßnahme, um Wetiko zu überwinden. Das wirkt auf jeden Fall, denn Wetiko will, dass wir immer auf unseren unmittelbaren Vorteil bzw. Nutzen achten.
Später las ich dann noch einen ins Deutsche übersetzten Artikel von Paul Levy, “Wetiko”: Die größte Epidemie, die der Menschheit bekannt ist, der meine ursprüngliche Begeisterung wieder dämpfte. Es lässt sich mit dem Konzept von Wetiko, wie mit jedem Konzept, auch Schindluder treiben, bzw. es lässt sich über-treiben. Das tut m.E. Paul Levy, allein schon dadurch, dass er mit dem Wort “Wetiko” auch Menschen bezeichnet, die damit infiziert sind. Auf diese Art dämonifiziert er solche Menschen und führt durch die Hintertür doch wieder das Böse ein, das es auszurotten gilt. Im Endeffekt fällt er selber auf das Teile-und-Herrsche-Prinzip von Wetiko hinein. Dennoch finde ich seinen Hinweis auf den Räuber bzw. Flieger, von dem Don Juan Matus berichtet, und auf die Archonten aus der Gnostik bedenkenswert. Bei Castaneda bin ich noch gar nicht so weit, gerade erst bei “Die Kunst des Träumens”, & entsprechend gespannt.
In der Folge wurde mein Denken über Wetiko assoziativer, & die erste Assoziation war das Monster aus der chinesischen Sage, das ich bei Charles Eisenstein entdeckt hatte. Interessant auch die Verbindung zum Komplex aus der Jungschen Psychologie. Dabei handelt es sich um “eine assoziative und psychoenergetische Einheit von Bildern und Vorstellungen, Gefühlen und Gedanken”. Das moderne Konzept des Mems könnte man als eine Art Update oder zumindest Neuauflage, vielleicht auch Verwässerung davon betrachten.
Sätze wie dieser haben dazu beigetragen, dass ich den Text doch bis zum Ende durchlas:
Unsere wahre Macht kommt dann, wenn wir unsere Schuld und Mittäterschaft an diesem Prozess erkennen und unsere Verantwortung annehmen, wodurch wir unsere Fähigkeit aktivieren, darauf zu reagieren - was uns die Kraft verleiht, uns anders zu entscheiden und die Dinge zu verändern.
Was gegen diese geistige Infektionskrankheit hilft, ist Bewusstsein darüber. In den Worten Don Juans: Wetiko anpirschen. In diesem Punkt sind sich Paul Levy und die Autoren von Seeing Wetiko einig. Makelloses Handeln mag Wetiko überhaupt nicht. Ein Aspekt von Wetiko ist die Selbstwichtigkeit, die mich nun schon lange beschäftigt.
Weitere Assoziationen zu den Texten:
Die Rekultivierung unseres Lebens trägt auch dazu bei, Wetiko zu schwächen, wohingegen die Blockchain auf “mehr desselben”, sprich “mehr Wetiko, weniger Menschlichkeit” deutet. Die Geschichte der menschlichen Bewusstseinsentwicklung, die ich im Beitrag Don Juan Matus, Martin Buber, Spiral Dynamics und die Megamaschine wiedergebe, lässt sich auch als stetige Ausbreitung des Wetiko-Virus beschreiben.
Statt durch ein geistiges Virus lässt sich die Ausbreitung der Megamaschine auch durch massenhafte Traumatisierung erklären. So geht z.B. Christoph Türcke vor. In eine ähnliche Richtung gehen Arno Gruen und Olaf Jacobsen (letzterer im Buch Die Kriegs-Trance), wobei diese beiden ohne die Annahme einer Gedankenform auskommen. Der Buddhismus wiederum spricht von drei Geistesgiften oder Kleshas (Verlangen, Abneigung und Unwissenheit). Wikipedia definiert diese folgendermaßen:
Kleshas sind bestimmte Strukturen, Muster und Kräfte im menschlichen Geist, die die Wahrnehmung und die Handlungsweise des Menschen steuern und ihn immer wieder in Situationen bringen, die leidvoll erfahren werden.
Ob es sich bei den Kleshas um Gedankenformen handelt oder nicht, bin ich gerade überfragt. Kann von euch jemand weiterhelfen?
Auch an Robert Anton Wilsons Aussage aus “Der neue Prometheus”, “dass es rivalisierende Programmierer-Banden mit radikal unterschiedlichen Zielen für die Entwicklung der Menschheit gibt”, musste ich denken.
Die Ausbreitung der Wetiko-Logik ließ mich wiederum an die Luhmannsche Systemtheorie denken: ein System ist zuallererst darauf aus, sich selbst zu erhalten.
Letztlich kann ich Wetiko also als eine neue, zusätzliche Beschreibung von Phänomenen nehmen, mit denen ich mich schon lange beschäftige. Diese Beschreibung fügt eine weitere Perspektive hinzu, nicht mehr, nicht weniger.
Nachtrag vom 01.05.: Nun habe ich die Stelle über die Schlammschatten bzw. den Räuber/Flieger bei Castaneda gelesen. Und das gibt mir nun doch zu denken.
»[Die alten Zauberer] entdeckten, daß wir einen lebenslangen Begleiter haben«, sagte er mit großer Klarheit und Deutlichkeit. »Es ist ein räuberisches Wesen, das aus den Tiefen des Kosmos kam und die Herrschaft über unser Leben an sich gerissen hat. Die Menschen sind seine Gefangenen. Dieser Räuber ist unser Herr und Meister. Er hat uns fügsam und hilflos gemacht. Wenn wir protestieren wollen, unterdrückt er unseren Protest. Wenn wir unabhängig handeln wollen, verlangt er, daß wir darauf verzichten.« […] »Du bist allein und aus eigener Anstrengung auf das gestoßen, was die Schamanen im alten Mexiko das Thema aller Themen nannten«, sagte Don Juan. »Ich habe die ganze Zeit sozusagen bei dir um den heißen Brei geredet und wiederholt Anspielungen darauf gemacht, daß uns etwas gefangenhält. Wir sind in der Tat Gefangene! Für die altmexikanischen Zauberer war das eine energetische Tatsache.«
»Wieso hat das räuberische Wesen die Herrschaft so übernommen, wie du es beschrieben hast, Don Juan?« fragte ich. »Dafür muß es eine logische Erklärung geben.« »Es gibt eine Erklärung«, erwiderte Don Juan, »und es ist die einfachste Erklärung der Welt. Sie haben die Herrschaft übernommen, weil wir Nahrung für sie sind. Und sie nehmen uns erbarmungslos aus, weil wir ihr Überleben sichern. So wie wir Hühner in Hühnerställen halten, in Gallineros, so halten uns die Räuber in Menschenställen, in Humaneros. Auf diese Weise haben sie ihre Nahrung ständig zur Verfügung.« […]
»Ich wende mich an deinen analytischen Verstand«, sagte Don Juan. »Denk einen Augenblick nach und sag mir, wie du den Widerspruch zwischen der Intelligenz des Menschen als Techniker und der Dummheit des Systems seiner Überzeugungen erklärst oder der Dummheit seines widersprüchlichen Verhaltens. Die Zauberer glauben, daß die Räuber uns das System unserer Überzeugungen, unsere Vorstellung von Gut und Böse, unsere gesellschaftlichen Sitten gegeben haben. Sie bringen unsere Hoffnungen und Erwartungen hervor und unsere Träume von Erfolg oder Versagen. Von ihnen stammen Verlangen, Gier und Feigheit. Die Raubwesen sind es, die uns zufrieden und egoistisch und zu Gewohnheitstieren machen.«
»Aber wie können sie das tun, Don Juan?« fragte ich, irgendwie noch mehr verärgert über das, was er sagte. »Flüstern sie uns das alles ins Ohr, während wir schlafen?« »Nein, so geschieht das nicht. Das ist idiotisch!« sagte Don Juan lächelnd. »Sie sind unermeßlich viel effizienter und systematischer. Um uns gehorsam, demütig und schwach zu halten, haben die räuberischen Wesen zu einem ungeheuerlichen Manöver gegriffen – ungeheuerlich natürlich vom Standpunkt eines Kampfstrategen. Und es ist ein schreckliches Manöver vom Standpunkt derer, die darunter leiden. Sie haben uns ihr Bewußtsein gegeben! Verstehst du? Die Räuber geben uns ihr Bewußtsein, das unser Bewußtsein wird. Ihr Bewußtsein ist verschlungen, widersprüchlich, verdrießlich und von der Angst erfüllt, jederzeit entdeckt zu werden. Ich weiß, du hast zwar nie Hunger gelitten«, fuhr er fort, »aber trotzdem hast du Angst um deine Nahrung. Und das ist nichts anderes als die Angst des Räubers. Er fürchtet, seine Machenschaften könnten jeden Moment aufgedeckt und ihm dadurch die Nahrung entzogen werden. Durch das Bewußtsein, das schließlich ihr Bewußtsein ist, lassen die Raubwesen in das Leben der Menschen einfließen, was immer vorteilhaft für sie selbst ist. Auf diese Weise erreichen sie ein gewisses Maß an Sicherheit, die als Schutzwall vor ihren Ängsten steht.« […]
Darauf folgte eine Aussage, die vernichtender war als alles, was er jemals zuvor geäußert hatte. Er sagte, dieser schmale Rand des Bewußtseins ist das Epizentrum der Selbstreflexion, in dem der Mensch unabänderlich gefangen ist. Dadurch, daß die räuberischen Wesen mit der Selbstreflexion ihr Spiel treiben, bewirken sie ein momentanes Aufflackern des Bewußtseins, das sie dann rücksichtslos und räuberisch verschlingen. Sie legen uns alberne Probleme vor, die das Bewußtsein zum Aufflackern zwingen. So halten sie uns am Leben, damit die energetischen Flammen unserer Pseudoprobleme sie ernähren.
Um den Flieger abzuschütteln, kommt es also darauf an, die eigene Selbstwichtigkeit zu verlieren.
Nachtrag vom 24.10.2021: Robin Kaiser spricht in seinem Buch “Das kosmische Klassenzimmer” von den Archonten als einer außerirdischen Spezies. Er hat das Kapitel “Der besetzte Planet” als Hörbuch bei YouTube hochgeladen. Dabei frage ich mich allerdings ernsthaft, ob das nicht wiederum eine sehr ausgefeilte Art von Opfertrance ist – die Archonten sind als Dunkelmächte für alles Böse verantwortlich, wir Menschen sind nur ihre armen Opfer…
Nachtrag vom 17.03.2022: Bastian Barucker hat einen großartigen Text über Wetiko veröffentlicht, der auch deutlich macht, dass das ein Phänomen im menschlichen Geist ist – Den Fluch des Bösen brechen – Eine indigene Perspektive.