Don Juan Matus, Martin Buber, Spiral Dynamics und die Megamaschine
Inzwischen bin ich beim achten Buch von Carlos Castaneda angekommen, “Die Kraft der Stille”. Darin findet sich eine beeindruckende Zusammenfassung der menschlichen Bewusstseinsentwicklung auf den Seiten 145-149:
Ich bremste plötzlich am Straßenrand. Und hier erkannte ich zum erstenmal in meinem Leben, daß eine Dualität in mir bestand. Es war, als gäbe es zwei getrennte Teile in mir. Der eine Teil war alt, sorglos und gleichgültig. Er war schwer und dunkel und hatte Verbindung mit allen anderen Dingen. Dieser Teil von mir war unbeschwert, weil er allen Dingen ebenbürtig war. Er erwartete nichts und freute sich an allem.
Der andere Teil war leicht, neu, locker, erregt. Er war nervös und schnell. Er machte sich Sorgen, weil er unsicher war. Er konnte sich an nichts erfreuen, weil er nicht mit den anderen Dingen verbunden war. Er war allein, oberflächlich und verletzlich. Mit diesem Teil von mir betrachtete ich die Welt. Und mit diesem Teil von mir schaute ich mich jetzt um:
Überall sah ich weites, urbares Land. Und dieser unsichere, lockere und sorgenvolle Teil meiner selbst war abwechselnd stolz auf den Arbeitsfleiß der Menschen und traurig über den Anblick dieser schönen alten Wüste von Sonora – jetzt überzogen von Ackerfurchen und ordentlich bestellten Feldern.
Der alte, dunkle, schwere Teil meiner selbst machte sich deswegen keine Sorgen. Die beiden Teile gerieten in einen Disput. Der lockere Teil forderte, der schwere Teil solle sich Sorgen machen. Und der schwere Teil forderte, der andere solle endlich seine Sorgen vergessen und sich freuen.
»Warum bist du stehengeblieben?« fragte Don Juan. Seine Stimme rief eine Reaktion in mir hervor. Aber ich könnte nicht sagen, daß ich es war, der reagierte. Der Klang seiner Stimme schien den lockeren Teil meiner selbst zu verfestigen. Und plötzlich war ich wieder ich selbst.
Ich erzählte Don Juan von dieser Dualität, die ich in mir erkannt hatte. Er erklärte mir diese Dualität als Folge verschiedener Positionen meines Montagepunkts. Und während er sprach, verlor ich meine Festigkeit wieder. Der lockere Teil wurde so locker, wie er es vorhin gewesen war, als meine Dualität mir zum erstenmal bewußt wurde – und wieder verstand ich genau, was Don Juan mir erklärte.
Wenn der Montagepunkt sich an den Platz ohne Erbarmen bewegt, so erklärte er, wird die Position der Vernunft und des gesunden Menschenverstands geschwächt. Als ich diese ältere, dunkle und stille Seite in mir entdeckte, so erklärte er mir, hätte ich eine Ahnung von den Vorläufern unserer heutigen Vernunft gespürt.
»Ich verstehe ganz genau, was du meinst«, sagte ich zu ihm. »Ich weiß so vieles, aber ich kann es nicht aussprechen. Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll.«
»Ich habe es dir schon früher einmal erklärt«, sagte er. »Was du jetzt als Dualität empfindest, ist die Ahnung einer anderen Position deines Montagepunkts. In dieser Position erspürst du die ältere Seite des Menschen. Und was diese ältere Seite weiß, bezeichnet man als stilles Wissen. Dieses Wissen kannst du vorläufig noch nicht aussprechen.«
»Weil du dafür sehr viel Energie brauchst«, antwortete er. »Und im Augenblick hast du diese Energie nicht zur Verfügung. Wir alle haben dieses stille Wissen«, fuhr er fort. »Es ist ein Wissen, das umfassende Kenntnis von allem hat. Aber es kann nicht denken. Und darum kann es nicht aussprechen, was es weiß.
Als der Mensch dieses Wissen erkannte und sich bewußt machen wollte, so glauben die Zauberer, da verlor er die Ahnung von alledem, was er wußte. Dieses stille Wissen, das du nicht aussprechen kannst, ist nichts anderes als die Absicht – der Geist, das Abstrakte. Der Mensch beging nur den Fehler, dies Wissen direkt erfahren zu wollen, wie er auch andere Dinge im Leben erfuhr. Je mehr er erfahren wollte, desto flüchtiger wurde das Wissen.«
»Doch was bedeutet all dies, Don Juan?« fragte ich. »Kannst du es nicht mit einfachen Worten sagen?«
»Es bedeutet, daß der Mensch auf das stille Wissen verzichtet hat, um die Vernunft zu gewinnen«, antwortete er. »Je stärker der Mensch sich an die Welt der Vernunft klammert, desto flüchtiger wird die Absicht.«
[…]
Und dann erzählte er mir von der Situation der Menschen in früheren Zeiten. Damals, sagte er, habe der Mensch unmittelbar gewußt, was er tun und wie er es tun sollte. Weil ihm alles glückte, entwickelte er ein Ich-Gefühl, das ihm die Illusion vorgaukelte, er könne seine Handlungen vorhersehen und planen. Auf diese Weise entstand die Idee eines individuellen Ich. Ein individuelles Ich, das dem Menschen sein Handeln vorzuschreiben begann.
Je stärker dieses individuelle Ich-Gefühl wurde, desto schwächer wurde die natürliche Verbindung des Menschen zum stillen Wissen. Der moderne Mensch – Endpunkt dieser Entwicklung – empfinde daher schmerzlich seine Trennung von allen Dingen dieser Welt. Seine Verzweiflung äußere sich in Gewalt und zynischer Selbstzerstörung.
Die Ursache für die Verzweiflung des modernen Menschen sah Don Juan in einem letzten, uns noch verbliebenen Rest stillen Wissens. Dieser gebe uns, erstens, eine Ahnung von unserer einstigen Verbindung zum Ursprung aller Dinge. Und zweitens lasse er uns begreifen, daß wir ohne diese Verbindung zum Ursprung niemals auf Glück und Frieden hoffen dürften.
Hier glaubte ich Don Juan auf einem Widerspruch ertappt zu haben. Früher einmal hatte er mir erklärt, der Krieg sei die naturgegebene Situation eines Kriegers; und Friede sei eine Anomalie.
»Das ist richtig«, sagte er. »Aber Krieg bedeutet für den Krieger nicht Beteiligung an Akten individueller Dummheit oder kollektiver Gewalt. Krieg ist für einen Krieger der Kampf gegen das individuelle Ich, das uns Menschen unserer einstigen Fähigkeiten beraubt hat.«
Don Juan schlug vor, wir sollten uns weiter über die Idee der Rücksichtslosigkeit unterhalten – jene erste Prämisse der Zauberei. Jede Bewegung des Montagepunkts, das hätten die Zauberer herausgefunden, bedeute nämlich eine Distanzierung von der übertriebenen Betrachtung des individuellen Ich, wie sie den modernen Menschen kennzeichne. Und die Zauberer glaubten, daß es eine bestimmte Position des Montagepunktes sei, die den Menschen zu einem so gefährlichen Egoisten mache – zu einem ausschließlich mit seinem Selbstbild befaßten Wesen. Weil der Mensch keine Hoffnung habe, jemals zum Ursprung der Dinge zurückzukehren, suche er Trost im eigenen Ich.
Damit aber fixierte er seinen Montagepunkt in jener Position, die sein Selbstbild verewige. Jede Bewegung des Montagepunkts, heraus aus seiner üblichen Position, bedeute zugleich eine Abkehr von der Selbstbetrachtung und Selbstüberschätzung des modernen Menschen.
Die Selbstüberschätzung, sagte Don Juan, habe ihre Ursache in der Selbstbetrachtung – jener Kraft, die den Montagepunkt in seiner gegenwärtigen Position fixiere. Darum sei es das Ziel der Krieger, die tyrannische Selbstüberschätzung von ihrem Thron zu stürzen. Ihr ganzes Tun gelte einzig diesem Anliegen.
Die Zauberer hätten nämlich herausgefunden, sagte Don Juan, daß Selbstüberschätzung nichts anderes sei als getarntes Selbstmitleid.
»Es ist unglaublich, aber wahr«, sagte er. »Das Selbstmitleid ist der größte Feind des Menschen, und die Quelle seines Elends. Ohne Selbstmitleid könnte der Mensch es sich gar nicht leisten, sich so sehr zu überschätzen, wie er es tut. Leider ist die Selbstüberschätzung eine Kraft, die ihren eigenen Gesetzen folgt. Und so kommt es, daß wir, wenn wir unser Elend beklagen und uns selbst bedauern, uns eigentlich selbst zu wichtig nehmen.«
Bereits im “Ring der Kraft”, dem vierten Castaneda-Buch, beschreibt Don Juan das Tonal:
»Das Tonal gilt, mit Recht, als ein Beschützer, ein Wächter – ein Wächter, der sich meistens in einen Wärter verwandelt.« […]
»Das Tonal ist der Organisator der Welt«, fuhr er fort. »Vielleicht kann man seine gewaltige Arbeit am besten beschreiben, wenn man sagt, daß auf seinen Schultern die Aufgäbe ruht, das Chaos der Welt zu ordnen. Es ist nicht zu weit hergeholt, wenn man – wie die Zauberer – behauptet, daß alles, was wir als Menschen wissen und tun, das Werk des Tonal ist.«
In den Worten Martin Bubers:
Dies gehört zur Grundwahrheit der menschlichen Welt: Nur Es kann geordnet werden. Erst indem die Dinge aus unsrem Du zu unsrem Es werden, werden sie koordinierbar. Das Du kennt kein Koordinatensystem.
Gegen Ende von Die Kraft der Stille, ab Seite 224, berichtet Don Juan, was er vom alten Nagual Elías gelernt hat (den ersten Punkt bezeichnete jener als Vernunft):
Die Position des stillen Wissens bezeichne man als dritten Punkt, erklärte der alte Nagual, weil man nur über den zweiten Punkt, den Platz ohne Erbarmen, dorthin gelangen könne.
[…]
Die ganze Menschheit, erklärte der alte Nagual, befinde sich noch am ersten Punkt. Aber nicht bei jedem Menschen sitze der Montagepunkt direkt in der Position der Vernunft. Die wenigen, bei denen sich der Montagepunkt direkt in dieser Position befinde, seien die wahren Führer der Menschheit. Meist wären es unbekannte Leute, deren Genie im stillen Üben ihrer Vernunft bestünde. Doch es gab einmal eine andere Zeit, sagte der alte Nagual, als die Menschheit sich am dritten Punkt befand. Dieser war damals natürlich der erste Punkt. Erst später sollte sich die Menschheit zum Punkt der Vernunft bewegen.
Aber auch vorher, als noch das stille Wissen der erste Punkt war, saß der Montagepunkt nicht bei allen Menschen in dieser Position. Die Anführer der Menschheit waren also jene wenigen, deren Montagepunkt sich direkt auf dem Punkt der Vernunft oder auf dem Punkt des stillen Wissens befand. Der große Rest der Menschheit, sagte der alte Nagual zu Don Juan, wären nur Zuschauer. Heute wären es die Anhänger der Vernunft. Früher waren es die Anhänger des stillen Wissens. Beide Gruppen von Anhängern bildeten das große Publikum, das die Helden beider Positionen in Hymnen und Epen feierte.
Den größten Teil ihrer Geschichte habe die Menschheit in der Position des stillen Wissens verbracht, sagte der Nagual Elias. Daher auch unsere mächtige Sehnsucht nach dieser einstigen Position.
[…]
Von dem Nagual Elias erfuhr Don Juan auch, daß nur derjenige, der ein Beispiel an Vernunft ist, seinen Montagepunkt leicht bewegen kann, um zu einem Beispiel an stillem Wissen zu werden. Die wenigen, bei denen sich der Montagepunkt direkt in einer der beiden Positionen befindet, können die jeweils andere Position deutlich erkennen. Auf diese Weise, sagte der Nagual Elias, sei das Zeitalter der Vernunft gekommen. Denn aus der Position des stillen Wissens sei die Position der Vernunft deutlich erkennbar gewesen und habe die Sehnsucht der Menschen geweckt.
Es sei eine Brücke mit Einbahnverkehr, die vom stillen Wissen zur Vernunft führte. Diese Einbahnbrücke, erklärte der alte Nagual, bezeichne man als »Interesse«. Jenes Interesse also, das die wahren Vertreter stillen Wissens für die Quelle ihres Wissens aufbrächten. Die andere Einbahnbrücke, von der Vernunft zum stillen Wissen, bezeichne man als »reines Verstehen«. Also die Einsicht der wahren Vertreter der Vernunft, daß die Vernunft nur eine Insel in einem unendlich weiten Meer voller Inseln sei. Ein Mensch, bei dem beide Einbahnbrücken funktionieren, sagte der alte Nagual Elias, sei ein Zauberer. Er stünde in direktem Kontakt mit dem Geist – jener lebendigen Kraft, die beide Positionen ermöglicht.
Mich beschäftigt schon länger meine Beobachtung, dass sich die Menschen zunehmend selbst in Maschinen zu verwandeln scheinen, indem sie ihre eigene Freiheit immer weiter einschränken zugunsten von Bequemlichkeit & einer Illusion von Sicherheit. Dazu bauen sie auch die Megamaschine ständig weiter aus und degradieren sich selbst zu Maschinenteilen. In letzter Zeit muss ich verstärkt an die Borg aus Star Trek denken; es sieht schwer danach aus, dass die Reise von Homo sapiens da hingeht (jetzt übernimmt Software schon das Management). Martin Buber beschreibt das in Ich und Du als eine stetige Ausweitung der Es-Welt:
Es ist somit im Allgemeinen die Eswelt jeder Kultur umfänglicher als die der vorangehenden, und trotz etlichen Stockungen und scheinbaren Rückläufen ist in der Geschichte die fortschreitende Zunahme der Eswelt deutlich zu erkennen. […]
Das Grundverhältnis des Menschen zur Eswelt umfaßt das Erfahren, das sie immer wieder konstituiert, und das Gebrauchen, das sie ihrem vielfältigen Zweck, der Erhaltung, Erleichterung und Ausstattung des Menschenlebens, zuführt. Mit dem Umfang der Eswelt muß auch die Fähigkeit, sie zu erfahren und zu gebrauchen, zunehmen. Der Einzelne kann zwar immer mehr unmittelbares Erfahren durch mittelbares, das »Erwerben von Kenntnissen«, ersetzen, er kann den Gebrauch immer mehr zur spezialisierten »Verwendung« abkürzen, dennoch ist eine stete Ausbildung der Fähigkeit von Generation zu Generation unerläßlich. […]
Denn die Ausbildung der erfahrenden und gebrauchenden Fähigkeit erfolgt zumeist durch Minderung der Beziehungskraft des Menschen – der Kraft, vermöge deren allein der Mensch im Geist leben kann.
Damit korrespondiert auch die hinduistische Sichtweise der Yugas, in deren Abfolge alles immer mehr den Bach runter geht. Der Wächter verwandelt sich in einen Wärter.
Die integrale Theorie und speziell Spiral Dynamics sieht die Entwicklung dem gegenüber konsequent optimistisch (hin zu mehr Bewusstheit und mehr Komplexität, wie Wilber es ausdrückt). Don Juans Beschreibung erklärt in diesem Modell, warum der Sprung von grün zu gelb (vom ersten zum zweiten Rang) so schwer fällt: die sechs Stufen des ersten Rangs stellen sich als stetige Weiterentwicklung des Egos dar mit Grün als dessen Höhepunkt. Auch wenn auf den ersten Blick das rationale Orange als die höchste Stufe des Egos erscheint, orientiert sich das Ego mit Schwerpunkt auf Orange doch noch an äußeren Maßstäben – Leistung, der wissenschaftlichen Methode oder auch den allgemeinen Menschenrechten. Grün akzeptiert als Maßstab nur noch sich selbst; das macht ja gerade den Relativismus bzw. Pluralismus aus, mit Toleranz als höchstem Wert. Für Grün existieren keine absoluten Wahrheiten, sondern meine Wahrheit ist eben meine ganz persönliche Wahrheit, weshalb es da nichts dran zu diskutieren gibt. Mit anderen Worten: Ego in Reinform.
Weil der pluralistische Relativismus (grün) über den mythischen Absolutismus (blau) und die formale Rationalität (orange) hinausgeht, zu reichhaltigen Strukturen individualistischer Kontexte, ist eines seiner definierenden Charakteristika sein starker Subjektivismus. Das bedeutet, dass seine Zustimmung zu dem, was wahr und gut ist, überwiegend von individueller Neigung bestimmt wird, (solange das Individuum nicht andere verletzt). Was wahr für Dich ist, ist nicht notwendigerweise wahr für mich; was richtig ist, ist einfach das, worüber Individuen oder Kulturen zu einem gegebenen Moment übereinstimmen; es gibt keinen universellen Anspruch für Wissen oder Wahrheit; jeder Mensch ist frei, seine eigenen Werte zu finden, welche niemanden anderen auf irgendeine Weise binden. “Du machst Dein Ding, ich mache meines” ist eine populäre Zusammenfassung dieses Standpunktes.
Um zu Gelb zu gelangen, muss das Ego von diesem Thron wieder herunter. Der Montagepunkt muss sich wieder bewegen. Und da liegt der Hund begraben.
Mein Ansatz dafür nennt sich bekanntlich Innerer Anarchismus. Und es ist nur folgerichtig, dass ich bei Robert Anton Wilson, Tantra und der Chaosmagie gelandet bin. Um eine Ordnung (welcher Art auch immer) aufrecht zu erhalten, muss die grenzenlose Freiheit sich selbst einschränken. Zugleich ist reines Chaos ohne jegliche Ordnung auch in sich beschränkt. ;-)
Das Paradox kriegen wir nicht weggedacht, auch nicht mit Hierarchien von logischen Typen. Diese sind nämlich zwangsläufig unendlich, wie wir seit Gödel wissen. Auch die integrale Theorie von Ken Wilber betrachte ich als einen vergeblichen Versuch, sämtliche Paradoxa in einem in sich konsistenten Denkgebäude aufzuheben.
Don Juan rät deshalb Castaneda (auf Seite 124/125):
»Natürlich fordere ich klares Denken von jedem in meiner Umgebung«, sagte er. »Und ich erklärte jedem, der es hören will, daß die einzige Art, klar zu denken, darin besteht, überhaupt nicht zu denken. Ich war überzeugt, du hättest diesen Widerspruch der Zauberer verstanden.«
Weil sie so schön ist, hier noch die Geschichte, wie Don Juan in “Reise nach Ixtlan” Castanedas Gewohnheiten auf die Schippe nimmt:
Wir suchten einige Stöcke zusammen und begannen, die Falle zu bauen. Ich hatte meine beinah fertig und war gespannt, ob sie funktionieren würde, als Don Juan plötzlich innehielt, auf sein linkes Handgelenk schaute, als sehe er auf die Uhr, obwohl er nie eine Besessen hat, und sagte, daß es nach seinem Chronometer Mittagszeit sei. Ich hielt gerade eine lange Gerte in der Hand, die ich zu einem Reifen biegen wollte. Automatisch legte ich sie zu den übrigen Jagdutensilien auf den Boden.
Don Juan sah mich neugierig an. Dann ahmte er den heulenden Ton einer Fabriksirene nach, die zur Mittagspause bläst. Ich lachte. Sein Sirenenton war perfekt. Ich ging auf ihn zu und stellte fest, daß er mich anstarrte. Bedächtig schüttelte er den Kopf. »Ich will verflucht sein«, sagte er. »Was ist los?« fragte ich.
Wieder ahmte er den langen, klagenden Ton einer Fabriksirene nach. »Die Pause ist um«, sagte er. »Geh wieder an die Arbeit.« Einen Augenblick war ich verblüfft, aber dann meinte ich, er machte Witze, vielleicht, weil wir tatsächlich nichts hatten, um eine Mahlzeit zuzubereiten. Ich war ganz von den Nagetieren in Anspruch genommen gewesen und hatte vergessen, daß wir keinen Proviant hatten. Ich nahm die Gerte wieder auf und versuchte, sie zusammenzubinden. Im nächsten Augenblick blies Don Juan seine „Sirene“ erneut. »Feierabend«, sagte er.
Er blickte auf seine Phantasie-Uhr, sah mich an und zwinkerte mir zu.
»Es ist fünf Uhr«, sagte er mit der Miene eines Menschen, der ein Geheimnis verrät. Ich glaubte, er sei der Jagd plötzlich überdrüssig und wolle die ganze Sache abblasen. Ich warf einfach alles hin und fing an, mich für den Aufbruch vorzubereiten. Ich sah ihn nicht an. Ich nahm an, daß er ebenfalls seine Sachen zusammensuchte. Als ich fertig war, blickte ich auf und sah ihn ein paar Meter entfernt mit gekreuzten Beinen sitzen.
»Ich bin fertig«, sagte ich. »Wir können jederzeit gehen.« Er stand auf und kletterte auf einen Felsen. Dort stand er, etwa zwei Meter über dem Boden, und sah mich an. Er legte die Hände seitlich an den Mund und brachte einen langen, durchdringenden Ton hervor. Es klang wie eine überdimensionale Fabriksirene. Er drehte sich einmal im Kreis herum, wobei er diesen klagenden Ton ausstieß.
»Was tust du da, Don Juan?« fragte ich.
Er sagte, er gebe der ganzen Welt das Zeichen zum Heimgehen. Ich war völlig durcheinander. Ich konnte mir nicht klar werden, ob er Spaß machte, oder ob er schlicht den Verstand verloren hatte. Ich beobachtete ihn aufmerksam und versuchte das, was er da tat, mit irgend etwas in Verbindung zu bringen, was er vorhin gesagt hatte. Wir hatten den ganzen Vormittag kaum miteinander gesprochen, und ich konnte mich an nichts Wichtiges erinnern. Don Juan stand immer noch auf dem Felsen. Er sah mich an, lächelte und blinzelte mir wieder zu. Plötzlich erschrak ich. Don Juan legte die Hände beidseitig an den Mund und ließ wieder einen langen, sirenenartigen Ton erklingen. Er sagte, es sei acht Uhr morgens, und ich solle mein Arbeitszeug bereithalten, denn es liege ein langer Tag vor uns. Nun war ich vollends verwirrt. Binnen Sekunden mündete meine Furcht in den unwiderstehlichen Wunsch, vom Schauplatz zu fliehen. Ich glaubte, Don Juan sei verrückt geworden. Ich wollte gerade davonlaufen, als er vom Felsen herabglitt und lächelnd auf mich zu kam.
»Du hältst mich für verrückt, nicht wahr?« sagte er.
Ich sagte, er habe mir mit seinem unberechenbaren Verhalten sinnlose Angst eingejagt.
Er entgegnete, wir seien jetzt quitt. Ich verstand nicht, was er damit meinte. Ich überließ mich ganz dem Gedanken, daß seine Handlungen durch und durch verrückt erschienen. Er erklärte, er habe absichtlich versucht, mir durch die Wucht seines unvorhersehbaren Verhaltens einen gehörigen Schrecken einzujagen, weil ich selbst ihn durch die Wucht meines vorhersehbaren Verhaltens um den Verstand brächte. Meine Routinegewohnheiten seien ebenso verrückt wie sein Nachahmen der Sirene.
Nachtrag vom 24.01.2017: Der Ausweitung der Eswelt entspricht, dass wir uns immer stärker von der Gedankenform der Schuld beherrschen lassen; allgemeiner dass wir uns überhaupt von Gedankenformen beherrschen lassen, die wir selber erschaffen haben.
Nachtrag vom 04.01.2021: Jahre nachdem er mir das erste Mal namentlich über den Weg lief, habe ich heute endlich angefangen, mich mal ernsthaft mit dem Philosophen Jochen Kirchhoff zu befassen. Sein Vortrag über den megatechnischen Pharao passt unbedingt hier hin:
Nachtrag vom 15.10.2022: Heute wurde ich auf den sehr weit- & hellsichtigen Text Das Cybernetz der Herrschaft aus dem Jahr 1993 von Feral Faun aufmerksam. Damals warnte er schon vor der Kybernetik als Kontrolltechnik auch für die Gesellschaft (siehe dazu auch meinen langen Beitrag über Die Hippies, die CIA, LSD, das Internet und den Unabomber). Kleine Kostprobe:
Kybernetische Technologie erlaubt nicht nur, sondern fördert eine Dezentralisierung der Autorität. Der industrielle Kapitalismus begann den Prozess durch den Autorität mehr und mehr direkt in der physischen Maschinerie, die die Gesellschaft reproduziert, zu existieren begann. Kybernetische Technologie ist diesen Prozess am Perfektionieren, bis zu dem Ausmaß, dass sie Technologien der gesellschaftlichen Kontrolle sogar bis ins Reich der Freizeit bringt – den home Computer, Videospiele und Ähnliches.
Alle von diesen anscheinend individuellen Stückchen cybertech – die die Arbeitsplätze, Schulen, Spielotheken und zumindest in den USA das Zuhause von beinahe jedem, der nicht zu arm ist, einen persönlichen Computer zu bekommen, durchdrungen haben – sind Teil eines potenziell einheitlichen globalen Netzwerks. Dieses Netzwerk ist daran, zum Zentrum von Autorität und Macht zu werden. Es beinhaltet beides: die materielle Technologie der kybernetischen Maschinen und die soziale Technologie kybernetischer systemischer Strukturen.
[…]
Mehr und mehr sind Individuen auf das angewiesen, was ihnen vom Cybernetz gesagt wird, und werden so abhängig von der kybernetischen Gesellschaft. Auf diesem Weg wird das Cybernetz wahrlich zum bislang am meisten totalitären System – genau durch das ‚Dezentralisieren‘ und Benutzen der integrativen Methoden des Prozesses und der Therapie, die Individuen zu Agenten ihrer eigenen Domestizierung machen, in einer Situation, in der niemand sich selbst traut, aber alle vom Cybernetz abhängig sind.
Dieses Fazit erinnert mich an Punkt 140 des Unabomber-Manifests:
Wir hoffen, daß wir den Leser davon überzeugen konnten, daß man das System nicht durch Reformen verändern kann, um Freiheit und Technologie in Einklang zu bringen. Der einzige Ausweg ist, das gesamte industrielle-technologische System abzuschaffen. Das bedeutet Revolution, nicht unbedingt ein bewaffneter Aufstand, aber auf jeden Fall eine radikalen und fundamentale Veränderung der gesamten Gesellschaft.