Wellness vs. Solidarität

Eben habe ich die britische Feministin Laurie Penny entdeckt, über ihren sehr lesenswerten Artikel Die Wohlfühl-Lüge.

Die Wohlfühl-Ideologie ist ein Symptom einer breiteren politischen Krankheit. Die Bürden von Arbeit und Arbeitslosigkeit, die Kolonialisierung aller öffentlichen Flächen durch privates Geld, der prekäre Alltag und die wachsende Unmöglichkeit, sich in Gemeinschaften zu organisieren, führt dazu, dass jeder für sich versucht, zu überleben.
Wir sollen glauben, dass Arbeit allein unser Leben verbessern kann. Chris Maisano argumentiert, dass “individualistische und therapeutische Antworten auf die Probleme unserer Zeit nicht schwer zu begreifen sind. Aber nur wenn wir Gemeinschaften bilden, vertrauen wir wieder in unsere kollektiven Fähigkeiten, die Welt verändern zu können”. Die Wellness-Ideologie begegnet diesem sozialen Wandel in zwei wesentlichen Punkten. Erstens überzeugt sie uns davon, dass es kein wirtschaftliches Problem ist, wenn wir krank, traurig und erschöpft sind. Es gibt so gesehen keine strukturelle Ungleichheit. Individuen haben sich falsch angepasst, und das erfordert eine individuelle Antwort. Wenn du dich miserabel oder verärgert fühlst, weil dein Leben ein ständiger Kampf gegen Armut und Vorurteile ist, dann bist du das Problem. Die Gesellschaft ist nicht verrückt oder kaputt: Du bist es.

Und an späterer Stelle:

Das Problem mit der Selbstliebe, wie wir sie gerade verstehen, ist, dass wir Liebe an sich zu einfach definieren, mit Herzchen und Blumen, Fantasie und rituellem Konsum. Die Moderne macht uns zu betrübten, ein bisschen gruseligen Teenagern, die sich selbst sagen, wie besonders und perfekt sie sind. Das ist genauso wenig Selbstliebe wie die Liebe jener Typen, die auf der Straße lauthals Frauenhintern loben.
Die härtere, langweiligere Art der Selbstsorge besteht aus täglichen, unmöglichen Mühen, aufzustehen und durch das Leben zu kommen, in einer Welt, die dich lieber niedergebückt und angepasst sieht. Eine Welt, deren grausame Logik es will, dass du keine strukturellen Probleme siehst, sondern nur Probleme bei dir selbst, oder bei den viel marginalisierteren und verletzlicheren Leuten. Echte Liebe, die Art, die heilt und bleibt, ist kein Gefühl, sondern ein Verb, eine Handlung. Es geht darum, was du für andere tust – über Tage, Wochen und Jahre. Es ist die Art der Liebe, die wir uns am wenigsten zugestehen, gerade in der politischen Linken.

Dazu passt auch das Interview im Spiegel mit Holger Nachtwey über die Angst vor dem Abstieg im Kapitalismus, “Lauter kleine Narzissten, auf Wettbewerb getrimmt”. Und McKinsey hat in einer Studie ermittelt, dass seit den letzten 10 Jahren immer mehr Menschen ärmer als ihre Eltern werden.

Der Trend geht also deutlich in Richtung noch krasserer Kampf jedeR gegen jedeN. Wellness bestärkt diesen Trend, Solidarität würde dagegen helfen.

Das beschäftigt mich, seit ich ins Diamond Lotus eingezogen bin, immer wieder. Denn ich will hier nicht die Megamaschine mit Wellness-Angeboten ölen, sondern auch im Tantra-Institut ihr Sand ins Getriebe streuen. Wie, das ist allerdings dabei die große & für mich bisher ungelöste Frage. Ausformuliert lautet diese Frage Wie geht Tantra ohne Geld? oder mindestens wie geht Tantra solidarisch?

Tantra als Business widerspricht jedenfalls ganz klar der Grundidee, was wiederum nicht heisst, dass da kein Geld fliessen darf. Das ist schon OK & darf gerne dazu gehören, so wie alles dazu gehört. Wir leben global in einer Gesellschaft, die die Verfügungsgewalt über Vermögen krass ungleichmäßig verteilt und dabei sogar noch von unten nach oben umverteilt. Als Tantriker kann & will ich dabei nicht nur nicht mitmachen, sondern dem entgegenwirken. Denn wenn Tantra eines ist, dann ein Weg der Befreiung.

Ich beende diesen Beitrag deshalb mit der Atari Teenage Riot-Version von Kids Are United:

Und ein Klassiker von den Scherben hintendran:

Es muss hoffentlich hierzulande nicht erst so kommen wie in Griechenland, wo solidarische Kliniken und andere Einrichtungen aus der akuten Not entstanden sind.

Nachtrag vom 31.08.: Wellness kann den Bezug zum Boden, auf dem wir leben & der uns mit allem Lebensnotwendigen versorgt, nicht ersetzen.

Nachtrag vom 02.09.: Schon seit einer Weile sage ich immer ganz gerne

Wir sind nicht auf diesen Planeten gekommen, um es bequem zu haben.

Nachtrag vom 19.01.2017: Daniel Kulla schreibt in seiner Vorschau auf das Jahr 2017

Vor allem aber muß sich auf den möglichst breiten, möglichst egalitären Zusammenschluß besonnen werden, dem wir fast alle sozialen Errungenschaften verdanken und der bestes Gegenmittel gegen Reaktion und Ideologie wie auch einzig offenstehender Weg über die Welt der Herrschaft hinaus bleibt.

Und an anderer Stelle:

Eine Klasse, überall! Erinnern, selber machen! Nichts Besseres sein wollen – es besser machen!

Nachtrag vom 09.02.2017: ‚Links sein‘ ist mehr als eine Lifehack-Biokonsum-Mischung.

Nachtrag vom 19.12.2018: Im allerersten transform-Magazin schreibt Kathrin Hartmann über Wohlsein statt Wellness und verlängerter Selbstoptimierung:

Mit Freiheit und Selbstbestimmung hat Wellness nichts zu tun. Wellness ist Resignation: Wenn man schon seine Lebensumstände nicht ändern kann, dann sich selbst.

Und Adam Curtis sagt im Interview mit dem Economist:

What no one saw coming was the effect of individualism on politics. It’s our fault. We all want to be individuals and we don’t want to see ourselves as parts of trade unions, political parties or religious groups. We want to be individuals who express ourselves and are in control of our own destiny. With the rise of that hyper-individualism in society, politics got screwed. That sense of being part of a movement that could challenge power and change the world began to die away and was replaced by a technocratic management system.

Dabei ist Curtis vorsichtig optimistisch wegen seines Eindrucks der jungen Generation:

I don’t know how it happened: 18- and 19-year-olds are interested in power and the idea that you can challenge power, rather than just trying to hold things down. I think that’s a generational shift. And in that sense, I’m optimistic.

Nachtrag vom 31.07.2019: Passender Artikel bei Keimform, Commons sind nicht genug …:

Wer an die transformative Kraft der Commons glaubt muss die Frage beantworten können, wie diese den Staat abwickeln, Wohnraum aneignen, die Klimakrise aufhalten und ein tragfähiges transpersonales Netzwerk schaffen können.

Nachtrag vom 13.11.2019: Extinction Rebellion hat mich zu diesem Nachfolgebeitrag inspiriert: Solidarität mit allen Wesen.

Nachtrag vom 14.01.2021: Nach langer Pause lese ich gerade in Miki Kashtans Artikelreihe Apart and Together weiter. Im Teil Reengaging with the Full Range of Our Emotions schreibt sie

This, then, is how we came into the pandemic: isolated, stressed, and powerless. Already in epidemic levels of anxiety, depression, and suicide. Many more of us than ever before living alone, separate from others, passively watching events and stories happening elsewhere. Then, in much of the world, the response to the Coronavirus has only intensified both the stressors and the isolation. As with so much else I have explored, this makes more visible and stark the conditions that have already been unsustainable for human life. We are social creatures, requiring touch and communion to thrive. In most of our time on this planet, we lived in small bands, moving around together. Even after settling down, we still mostly lived in small communities where we knew everyone, and where we leaned on each other for material, emotional, and spiritual needs. We are made weaker, less able to meet the challenges of life, and less capable of wisdom, when we are separated from each other.

Nachtrag vom 25.04.2022: In den NachDenkSeiten habe ich eine Buchrezension entdeckt, die voll zum Thema passt – „Dieses Buch ist eine Abrechnung mit der Glücksindustrie“. Udo Brandes bespricht darin das Buch Das Glücksdiktat. Und wie es unser Leben beherrscht. Kleine Kostprobe aus der Rezension:

Weiter kritisieren sie, was „Glücksforscher“ predigen, sei ein mächtiges Instrument für Organisationen und Institutionen, um sich „gehorsame Arbeitnehmer, Soldaten und Bürger schmieden zu können“. Während im 18. und 19. Jahrhundert der Anspruch auf individuelles Glück noch auf eine Überwindung der bestehenden Verhältnisse abzielte, sei es heute genau umgekehrt: Heute sei das Streben nach Glück „ein Werkzeug im Dienst der zeitgenössischen Macht“. Was früher der Gehorsam gewesen sei, sei heute die „Arbeit am Selbst“ (alle Zitate S. 203).

Nachtrag vom 16.06.2022: Beim Liebeskunst-Netzwerk gibt es einen passenden Beitrag zum Thema, Kambo, Kakao, Spiri-Touristen – Kultur oder Kommerz?. Kostprobe:

Ich glaube, die teilweise esoterisch verblendete, abergläubisch motivierte und tendenziell unpolitische Haltung der meisten Healing-events trägt weniger dazu bei, die Welt strukturell zum Besseren zu verändern.
Sie stärkt vielmehr das Selbstbild einer hyperindividualisierten, privilegierten Klasse, die es sich leisten kann, für exotische Selbsterfahrungstrips zu zahlen;
… ich jedenfalls kehre nach einer all-verbundenen Intensiv-Erfahrung als inspiriertes, aufgeladenes, aber nach ein paar Tagen ernüchtertes Rädchen in eine demoralisierte Welt-Maschine zurück: das richtige Leben im Falschen, reloaded.

Nachtrag vom 01.01.2024: Durch die Rezension bei den NachDenkSeiten bin ich auf das Buch “Scheiß auf Selflove, gib mir Klassenkampf” gestoßen. Das haut in die gleiche Kerbe:

Ich behaupte, dass Thatchers Gesellschaft der Gesellschaftslosen auch im postmodernen linksliberalen Diskurs Verankerung gefunden hat. Die Thatcher’sche Kaltherzigkeit wird dabei in den Argumentationen durch einen ‚empfindsamen Individualismus‘ ersetzt. So ist es zur moralischen Tugend vieler junger Menschen geworden, sich von ‚toxischen‘ Personen abzugrenzen, aufwendige, oftmals durchaus konsumtive ‚Selfcare‘ zu betreiben und der Fetischisierung des eigenen Selbst zu frönen. Wir nennen es ‚Selflove‘. Alles, was mich verunsichert, was mich herausfordert, was mich kritisiert, was mir, laut eigener Definition, Unrecht oder Leid antut, kann und sollte ich ohne jede Begründung ein für alle Mal aus meinem Leben verbannen, denn mein Recht auf Glück steht über dem Bedürfnis meines Gegenübers, angehört zu werden

sowie

Die neoliberale Auffassung von Lebensglück als etwas Privates, das man sich als Individuum erarbeiten muss, macht Glück zu etwas, das überhaupt nichts mit den gesellschaftlichen und politischen Umständen zu tun hat. Aber ein Obdachloser kann sein Unglück nicht „wegatmen“ oder „wegmeditieren“. Er braucht zu seinem Glück schlicht eine Wohnung und soziale Sicherheit. Und Menschen, die unter einem Krieg leiden, sind nicht wegen einer falschen Geisteshaltung unglücklich, sondern weil ihr Haus kaputtgebombt wurde und ihre Angehörigen ums Leben gekommen sind.