Trauma, Tod und Freiheit
Seit das Kriegsenkel-Thema mit Macht in mein Leben eingebrochen ist, beschäftige ich mich auch mit psychischem Trauma. So habe ich z.B. Trauma als möglichen Motor des Kapitalismus analysiert.
Je länger ich mich damit auseinandersetze, um so mehr hinterfrage ich allerdings die Bedeutung von Trauma. Das liegt vor allem daran, dass mir als innerem Anarchisten in erster Linie an (Selbst-) Befreiung durch Bewusstseinserweiterung gelegen ist. Und diese Entschlossenheit rührt wohl daher, dass ich mich viele Jahre lang selbst in der Opferrolle (oder auch Opfertrance) gefangen gehalten hatte. Auf die Art konnte ich intensive Erfahrungen mit dieser Opferrolle machen, & den (langen!) Weg da raus bin ich zunehmend bewusster gegangen.
Einer von vielen Impulsgebern dafür war Don Juan Matus, der in Reise nach Ixtlan folgendes über den Tod sagt:
Der Tod ist der einzige weise Ratgeber, den wir haben. Immer wenn du, wie es bei dir meistens der Fall ist, das Gefühl hast, daß alles falsch läuft und dir das sichere Ende bevorsteht, dann wende dich an deinen Tod und frage ihn, ob das zutrifft. Dein Tod wird dir sagen, daß du unrecht hast; daß nichts wirklich wichtig ist, außer seiner Berührung. Dein Tod wird dir sagen: „Ich habe dich noch nicht angerührt.“
Alle traumatisierten Menschen haben zumindest eins gemeinsam: Sie leben noch. Wer tot ist, kann wohl kaum noch traumatisiert sein. Meine radikale Schlussfolgerung daraus ist, dass kein Trauma so schlimm sein kann, dass man nicht irgendwie damit umgehen, damit leben könnte.
Den Beginn jeder Traumatisierung bildet deshalb der Glaubenssatz “das halte ich nicht aus”. Das kann auch vorsprachlich wirken. Und damit kommen wir zur Dissoziation, nach der Alexandra Schumacher gefragt hatte. Unter Dissoziieren verstehe ich in diesem Zusammenhang, das traumatische Erleben abzuspalten, sich selbst zu sagen “das gehört nicht zu mir” (wiederum ggf. vorsprachlich). Letzten Endes unterscheidet sich das nicht von dem, was wir mit dem Ego, dem Sich-Identifizieren als Grenzziehung auch “normalerweise” tun. Wer dissoziiert, trennt einen Teil ab & macht diesen zu etwas Fremdem.
Bewusstseinserweiterung kehrt, wie ich im Zusammenhang mit Kriegskindern und -enkeln schon geschrieben hatte, diesen Vorgang um: Schritt für Schritt betrachte ich immer mehr als Teil von mir bzw. nicht von mir getrennt. Im Fall von dissoziierten Anteilen aus traumatischen Erfahrungen handelt es sich meist um sehr schmerzhafte oder angstvolle Wahrnehmungen. Die gehören halt auch dazu. Bei jeder solchen Wahrnehmung kann ich mir vergegenwärtigen, dass ich noch lebe, dass mein Tod mich noch nicht angerührt hat. Also, warum nicht auch das Grauen in seiner Fülle erleben?
Wir sind hier in diese Welt der Erscheinungen gekommen, um Erfahrungen zu machen. Erfahrungen aller Art.
Ich operiere deshalb mit dem Glaubenssatz, dass jeder Mensch alles aushalten kann. Sogar den Tod - & das sogar mit absoluter Sicherheit!
Ich bitte darum, das nicht als “Durchhalteparolen” zu verstehen, die gerade den Kriegsenkeln nun wirklich zu den Ohren hinaushängen. Denn bei Durchhalteparolen (à la “erst die Arbeit, dann das Vergnügen”) geht es um momentanen Verzicht, damit es später irgendwann mal besser werden möge. Ich will hier darauf hinaus, jenseits von Bewertungen jede einzigartige Erfahrung als ebensolche zu erfahren.
Dadurch bin ich nämlich frei. Nichts & niemand zwingt mich, auf eine Erfahrung so oder so zu reagieren. Ich kann sie einfach erleben. Natürlich kann ich auch reagieren, habe aber die Wahl. Genau darum geht es bei der Makellosigkeit.
Und selbstverständlich bleibt es jedem selbst überlassen, den Weg der Bewusstseinserweiterung zu gehen, im ganz eigenen Tempo. Mit meinem Glaubenssatz, dass jeder Mensch alles aushalten kann, räume ich nur alle Hindernisse dabei aus dem Weg, ich treibe niemanden an.
An diese Stelle passt die Erkenntnis, die ich von Sabine gelernt habe: “ich kann nicht” heisst “ich will nicht”. Und es ist für mich auch völlig in Ordnung, gerade mal nicht zu wollen.
Doch denkt daran: Als lebende Wesen bilden unser erster & unser letzter Atemzug die Grenzen unserer Freiheit. Unser Leben spielt sich dazwischen ab, genau diese Zeit steht uns zur Verfügung. Also, wenn du bestimmte Erfahrungen nicht machen willst, was willst du dann in diesem Leben? Viele erleben Traumatisierung & Dissoziation als einschränkend. Da kannst du entweder diese Einschränkung erleben, oder die abgespaltenen Erlebnisse wieder hereinholen & mit ihnen leben.
Und ich erinnere noch mal an das, was Mr. Ramesh über die Angst zu sagen hat.
Das perfekte Schlusswort zu diesem Beitrag liefert Thomas D in seinem Lied “Fluss”:
Denn wir sind wunderbare Wesen nur wir reden uns klein Und kommt uns irgendwas entgegen soll es eben so sein Wir sind im Leben daheim, ich bin zu allem entschlossen Und alles was durch diese Türen kommt wird sofort genossen
Update vom 16.06.: Heute ist mir erst aufgefallen, wie perfekt dazu die Konzentration auf das Atmen passt. Denn solange ich atme, lebe ich – was auch immer mir bisher widerfahren ist. Solange ich atme, hat mich der Tod noch nicht angerührt.
Update vom 25.06.: Im Folgebeitrag Trauma, Tod und Freiheit II relativiere ich einige meiner Aussagen hier, weil ich eine Parallelwelt organisierter Gewalt entdeckt habe, die Menschen gezielt entmenschlicht.
Update vom 30.06.: Peter Levine bestätigt meine Einschätzung bezüglich des Glaubenssatzes in seinem Artikel “Panik, Biologie und Vernunft” im Trauma Newsletter Frühjahr 2003:
Ich habe keine Angst vor Schlangen oder Spinnen, sondern vielmehr vor meiner Unfähigkeit, effektiv auf diese Kreaturen zu reagieren. Letztlich haben wir nur eine Angst – dass wir mit etwas nicht umgehen können. Es geht um die Angst davor, eine bestimmte Herausforderung nicht zu meistern.
Im gleichen Newsletter befindet sich auch ein Artikel über die Polyvagal-Theorie von Stephen Porges. Zu diesem Thema habe ich noch einen Artikel Die Funktion der Atmung nach der Polyvagal-Theorie gefunden, der zeigt, dass am Beginn jeder Traumatherapie die Regulation des Atems stehen sollte. Dass die Konzentration auf das Ausatmen hilft, habe ich schon bei meinem ersten & bisher einzigen Halbmarathon gelernt. :) Der Artikel erklärt auch die beruhigende Wirkung von (Wiegen-) Liedern:
Porges schreibt, dass langsames Atmen, verbunden mit ausdrucksstarker Vokalisation im mittleren Frequenzbereich und in melodischer Form, wie z.B. beim Singen von Wiegenliedern, das Herz über den myelinisierten Vagus beruhigt.
Der Pharmaindustrie dürften diese Erkenntnisse allerdings gar nicht gefallen:
Wenn soziale Interaktionen als biobehaviorale Prozesse verstanden werden, eröffnet sich die Möglichkeit, eine therapeutische Behandlung ohne Psychopharmaka zu entwickeln, die auf die positive Wirkung sozialer Interaktionen und interpersonalen Verhaltens bei der neuronalen Regulation des körperlichen Zustandes und des Verhaltens vertraut.
Bei weiteren Recherchen fand ich weiterhin die Seite Atemphilosophie. Stöbert einfach mal darin, da steckt ne Menge drin. Das Ganze hat nun auch zu dem neuen Tag Atem geführt.
Nachtrag vom 26.09.: Aus mir unerfindlichen Gründen existiert die Atemphilosophie-Seite nicht mehr, ist aber noch im Internet Archive vorhanden.