Haben wir uns zu viel vorgenommen?
Bei dieser Überschrift stellt sich zunächst die Frage, wer ist eigentlich “wir”? Nun, ich beobachte, dass diese Frage auf vielen Ebenen sinnvoll gestellt werden kann.
Fangen wir bei mir an: Als ich in die Antinous Gemeinschaft kam, hatte ich vor, bald selber in die Workshops einzusteigen; anfangs als Assistent, später wollte ich dann auch eigene Workshops (mit)gestalten. Und darüber hinaus wollte ich sogar einen Floating-Tank betreiben & auch das in Workshops einbinden.
Relativ schnell stellte sich heraus, dass sich weder das eine noch das andere so schnell in die Tat umsetzen liess. Und an diesem Punkt habe ich jeweils die weise Entscheidung getroffen, “na dann eben (noch) nicht”, & bin dem Fluss des Lebens gefolgt. Wohin mich das bis jetzt geführt hat, beschreibt u.a. der Beitrag Ich werde konservativ. Als mir klar wurde, dass ich mir zu viel (oder jedenfalls zu viel vom Falschen) vorgenommen hatte, habe ich in dem Bereich schnell die Kurve gekriegt.
An anderer Stelle habe ich viel zu lange an dem festgehalten, was ich mir vorgenommen hatte – ich habe die Komplexität von KDE unterschätzt. Das merke ich akut daran, welche Unmengen von Paketen ich durch den Wechsel auf LXDE jetzt einfach deinstallieren kann, weil ich sie nicht mehr brauche. Warum hatte ich mich überhaupt seinerzeit für KDE entschieden? Weil ich mich nicht näher damit befasst hatte & schlicht zu faul war, die einmaligen (!) Anpassungen zu machen, die ich jetzt nachhole. KDE konnte das halt alles out of the box; der Preis dafür war über die Jahre sehr hoch: alle paar Wochen ein Update von zig Paketen, das dann auch einen Neustart des Rechners nach sich zog, & davor habe ich natürlich aus Sicherheitsgründen jeweils ein Backup vom System gemacht. Dazu immer wieder mal Probleme, die ich erst nach ausgiebigen Recherchen lösen konnte, oder auf das nächste Update warten musste bis zur Lösung. Da sind bestimmt mehrere Wochen meiner Lebenszeit für draufgegangen, weil ich mir vorgenommen hatte, die Komplexität des Systems vor mir selber zu verstecken. Das hat natürlich nicht funktioniert…
Nun zur nächst größeren Ebene, der Gemeinschaft, in der ich lebe: Immer wieder beschleicht mich der Verdacht, dass auch die Antinous Gemeinschaft bzw. das Diamond Lotus Tantra Institut sich zu viel vorgenommen hat, wenn es die ganze Menschheit mit Tantra & Freier Liebe/Polyamorie beglücken will. Das Ganze dann auch noch mit immer neuen Projekten wie Saranams Buch “Hautgeflüster”.
Es dient doch dem Ganzen nicht, wenn wir uns übernehmen. Dadurch können wir unser eigentliches Potential gar nicht ausschöpfen. Ich erinnere in dem Zusammenhang noch mal daran, wie wichtig es ist, dass wir uns Unterstützung holen für alles, was wir nicht allein tun können.
So, und auf der großen Ebene der Menschheit sehe ich am deutlichsten, dass wir uns zu viel vorgenommen haben: Wir haben uns zur Krone der Schöpfung gemacht & kriegen diese Rolle so überhaupt nicht gebacken. Die Krankheit unserer Zeit heisst Burnout. Und auch die Erde brennt: zum einen wird sie immer wärmer, zum anderen brennt sie buchstäblich, zur Zeit am Amazonas und auch in der Arktis.
Der Machbarkeitswahn & der (Irr-) Glaube, dass sich für all unsere Probleme schon technische Lösungen finden werden, sind für mich Ausdruck davon, dass auch homo sapiens sapiens insgesamt sich zu viel vorgenommen hat. Faktisch werden mit jedem Lösungsversuch die Probleme nur immer größer & münden im globalen Clusterfuck. Dabei stellen wir uns viel zu selten die Frage Wohin rennen wir eigentlich?
Weil wir uns so viel vorgenommen haben & das alles unbedingt durchziehen wollen, trauen wir uns nicht, auch mal zusammenzubrechen. Das bleibt dann ja kein Dauerzustand, wir können uns wieder aufrappeln. Aber wenn du auf eine Wand zurast, solltest du schlauerweise vorher abbremsen, sonst kannst du dich hinterher nicht mehr aufrappeln. Als kollektive Menschheit machen wir bisher leider kaum Anstalten abzubremsen.
Besser wir überdenken unsere Ansprüche noch mal, bevor es zu spät ist. Schaffen wir es, eine makellose Menschheit zu werden?
Übrigens steht im Handbuch, dass auch die Materie selbst findet, dass wir uns zu viel vorgenommen haben:
Die Quark-Allianz ist für viele technologische Fehlschläge der letzten Zeit verantwortlich, die irrtümlich menschlichem Versagen, gelegentlich auch der Materialermüdung zugeschrieben wurden. Obwohl man den Faktor des menschlichen Versagens nie unterschätzen sollte, kommt das Stichwort »Materialermüdung« den wahren Hintergründen schon wesentlich näher. Was da nämlich abläuft, ist bewußte Kommunikation auf der atomaren Ebene, die zu der einmütigen Entscheidung geführt hat, das Gewebe Ihrer physischen Welt zu verändern.
Nicht das Material ermüdet, die Moleküle ermüden. Tatsächlich sind sie nicht nur müde – sie haben die Schnauze gestrichen voll. Sie sind nicht länger bereit, einer Technologie zu dienen, die das Leben leugnet und den Planeten gefährdet. In der Konsequenz verweigern sie geradeheraus die Zusammenarbeit und sorgen für einen gewissen Anteil technischer Stolpersteine.
In der Sprache der Prozessarbeit kann ich sagen: Die Doppelsignale werden immer stärker, weil die Sekundärprozesse der Menschheit endlich integriert werden wollen. Worauf warten wir noch? Oder in den Worten von Daniel Pinchbeck: How Soon is Now?
Nachtrag: Hab gerade gemerkt, dass das sechste der Core Commitments von Miki Kashtan perfekt hier hinpasst:
- Ausgleich: Selbst wenn ich versucht bin, mich zu überlasten (einschließlich aufgrund irgendeiner dieser Erklärungen), will ich in jedem Moment achtsam gegenüber meinen Grenzen sein. Wenn ich merke, dass ich mich unter Druck setze,will ich mir Unterstützung dafür holen, die natürliche Weisheit meines Organismus zu respektieren und darauf zu vertrauen, dass es mich unterstützt, mit der Zeit meine Fähigkeit zu erhöhen, wenn ich innerhalb meiner derzeitigen Grenzen bleibe.
Nachtrag vom 28.08.: Auch Charles Eisensteins Essay Das Zeitalter, in dem wir einander brauchen passt hier hin:
Das war der erste Schlag gegen meine großen Ambitionen. Zuerst wurde also mein persönlicher Ehrgeiz zunichte gemacht. Dann wurde im zweiten Schritt meine Hoffnung zerstört, Großes zu leisten, um die Welt zu verändern. Wir wollen ja eine möglichst große Wirkung erzielen, nicht nur eine kleine, aber das ist, wie ich zu verstehen begann, Teil der Krankheit, die es zu heilen gilt. In unserer Kultur werden jene wertgeschätzt und bewundert, die da draußen auf großen Bühnen stehen und zu Millionen von Menschen sprechen, während die anderen ignoriert werden, die eine bescheidene, stille Arbeit leisten und sich um einen kranken Menschen, ein Kind, einen kleinen Flecken Erde kümmern. […]
Bestimmte Entscheidungen fühlen sich unwillkürlich bedeutsam an. Das Herz ruft uns auf zu handeln, ohne dass unsere Vernunft das angesichts der globalen Probleme rechtfertigen kann. Die Logik, dass nur das Große zählt, kann uns das Gefühl geben, bedeutungslos zu sein. Sie verleitet uns, Bedeutsamkeit auf die Leute zu projizieren, die wir auf unseren Bildschirmen sehen. Aber im Wissen, dass gerade diese Leute im Namen der Weltverbesserung schon so viel Schaden angerichtet haben, wurde ich es leid, dieses Spiel zu spielen.
Weiterer Nachtrag vom 28.08.: Ich stelle mir gerade wieder die Frage, ob ich mir auch damit zu viel vorgenommen habe, das alles hier verstehen zu wollen. Immer wieder gehe ich der Frage nach “was läuft hier eigentlich?”, wovon auch mein Bücherregal Bände spricht (und das ist nur das eine von zweien):
Vielleicht begebe ich mich lieber in die Wolke des Nichtwissens…
Nachtrag vom 08.09.: Vielleicht sollten wir alle mal für eine Weile unsere Feuerwege verlassen und uns auf einen Wasserweg begeben:
„An sich arbeiten“ – all unsere westlichen Techniken, Methoden und unsere Meditationen für den Aufstieg (oder wenigstens Fortschritt) können wir zusammenfassen als das Prinzip „FEUER-Weg“. […]
Nahezu alle Traditionen, die die westliche Kultur importiert hat, sind von Techniken und Arbeit an uns geprägt – etwas an unserer Natur müsse verbessert werden, um heilen zu können und Erleuchtung zu finden.
Damit ist der FeuerWeg von einem tiefen Misstrauen gegen uns selbst geprägt.
Oh ja, der FeuerWeg gibt uns mehr als genug Inspiration dafür, wie wir hart AN uns arbeiten können. Wir gewinnen nichts mit dieser Selbstverbesserung – denn wir arbeiten hart GEGEN uns. YANG.
Arbeiten wir hart AN uns – oder arbeiten wir hart GEGEN uns?
Der #WasserWeg verbessert nichts, sondern vertieft alles. Wir transzendieren, indem wir in die Tiefe unseres Nervensystems, unserer Zellen, unserer Körperin TAUCHEN - wir transzendieren, indem wir inkarnieren.
Das Tantra drückt es so aus: Du steigst, wodurch du fällst.
Das ist im übrigen auch die Grundhaltung der Prozessarbeit: Follow nature. Arnold Mindell hat diese Grundhaltung am ausführlichsten in seinem Buch River’s Way: The Process Science of the Dreambody beschrieben, das es auf deutsch unter dem Titel Traumkörper-Arbeit oder Der Weg des Flusses gibt (beide nur noch antiquarisch).
Nachtrag vom 13.08.2020: Ein Grund dafür, dass wir uns immer wieder zu viel vornehmen, könnte unsere eingebaute rosa Brille sein.
Nachtrag vom 30.05.2022: Dieses Gespräch in der Oya Ausgabe 65 passt voll ins Thema:
Als wir diese Ausgabe – ursprünglich zu einem ganz anderen Thema – planten, ist uns aufgefallen, dass wir gar nicht darüber nachgedacht hatten, die Ernte vom »Sommer des guten Lebens« einzufahren. Wir fragten uns, warum wir gleich zum nächsten wichtigen Thema übergehen wollten, anstatt das, was da war, zu würdigen und zu feiern. Uns wurde bewusst, dass das in Gesellschaften westlicher Prägung auch kollektiv ein Thema ist. Die persönlichen Grenzen sind da eng mit den planetaren Grenzen verbunden: Wir werfen mehr Fäden aus, als wir gut versorgen, verantworten und an die nachfolgenden Generationen weitergeben können.
Das Gespräch aus Ausgabe 60 mit Ina und Sucha, die ich beide aus dem ZEGG kenne, ist eine Art Vorläufer dieses Gesprächs. Kostprobe von Sucha:
In Gemeinschaft, die auch Projekte verwirklicht und etwas bewegen möchte, was über sie hinaus wirkt, geht es immer um irgendetwas Interessantes, Begeisterndes oder noch zu Tuendes. Das hat mich chronisch erschöpft, ohne dass ich es gemerkt hätte. In meinem neuen Zuhause ist alles genau so in Ordnung, wie es ist – nicht nur so, wie es werden soll. Seit mein Zuhause kleinteiliger ist, weniger Menschen beinhaltet und kein Projekt mehr ist, erlebe ich eine andere Frequenz der Entspannung.
und von Ina:
Inzwischen habe ich gelernt, mich auf eine gesunde Art abzugrenzen und nicht mehr überall mitzumachen. Ich glaube, es geht vielen Menschen so, dass sie eigentlich reizüberflutet sind vom Gemeinschaftsleben, dadurch nicht mehr in einer feinen Wahrnehmung mit sich selbst und in Reaktionen gefangen sind. Gemeinschaftsleben hat viele Stimulationen, und wenn ich nie gelernt habe, mich selbst in Begrenztheit wahrzunehmen, merke ich nicht, dass ich über meine Grenzen gehe, und wundere mich dann, dass ich überfordert bin. Gemeinschaft ist immer wieder ein spannender Balanceakt zwischen dem Ich und dem Wir, und das hat viel mit Wahrnehmung und Kommunikation zu tun.
Das gilt zwar für das Leben in einer Gemeinschaft ganz besonders, jedoch auch allgemein für alle, die in einer menschlichen Gesellschaft leben.