Tod und Apokalypse als Geisterrollen
Auch weil ich am Dienstag beim Integralen Salon in Leipzig die Prozessorientierte Psychologie vorstellen werde, befasse ich mich gerade wieder intensiv mit Worldwork. Dabei gibt es das Konzept der Geisterrollen:
das sind in der Atmosphäre der Gruppe vorhandene Rollen, die aber im Augenblick von keiner Person in der Gruppe tatsächlich vertreten werden.
Solche Geisterrollen drücken sich oft in der Stimmung, der Atmosphäre einer Gruppe aus. Es “steht etwas im Raum”, das nicht direkt greifbar, aber doch irgendwie wahrnehmbar ist, manchmal nur von einem Teil der Gruppe. Die Arbeit im Gefängnis, die Max Schupbach in seiner Worldwork-Broschüre beschreibt, illustriert das sehr gut:
Insassen (bestimmt): „Die Wärter hassen uns, sie machen uns das Leben so schwer wie möglich. Sie halten uns für den Abschaum der Menschheit und scheißen auf uns, wann immer sie können.“ Einige Wärter protestieren: „Das stimmt nicht; wir befolgen nur Anweisungen. Wir wissen, daß es hier drin schwierig ist, aber wir respektieren euch als Menschen und möchten euch in eurem Rehabilitationsprozeß unterstützen.“
Schupbach schreibt in der Analyse der Situation:
Die Geistrolle des Wärters, die die Gefangenen haßt und glaubt, daß sie ’Abschaum’ sind, schwebt immer noch im Feld. Sie kreist jetzt. Jeder Vorwurf von seiten der Gefangenen soll zeigen, daß die Wachen sie hassen und sie schikanieren wollen. Jede Antwort darauf soll zeigen, daß das Gegenteil der Fall ist.
Solange keiner der Wärter zugibt, zumindest manchmal tatsächlich die Gefangenen für Abschaum zu halten, was die Gefangenen sehr wohl so erleben, bleibt es eine Geisterrolle.
So viel zum Konzept der Geisterrolle.
Beim Nachdenken darüber wurde mir klar, dass der Tod und die Apokalypse, der Weltuntergang, in den allermeisten Zusammenhängen (jedenfalls in unserer Kultur) Geisterrollen bleiben. Dabei gehört der Tod untrennbar zum Leben dazu und steht als reale Möglichkeit immer im Raum. Die meisten wollen das allerdings nicht wahrhaben. Auch die Möglichkeit eines Weltuntergangs, mindestens des Endes der Menschheit, ist gar nicht so abwegig. Die Dinosaurier könnten ein Lied davon singen, wenn sie nicht… ;-) Und doch, wenn z.B. manche Christen durch die Stadt laufen mit einem Schild “Tut Buße, das Ende ist nahe”, werden diese belächelt und für verrückt erklärt. Gleichzeitig rennen die Massen ins Kino und gucken sich einen Emmerich-Film nach dem anderen an. “Es ist ja nur ein Film”…
Die Geisterrolle besteht in beiden Fällen darin, dass alles einmal zu Ende geht, dass nichts für immer bleibt. Immer wieder geht etwas für immer zu Ende und kommt auch nicht wieder. Wird das nicht benannt und anerkannt, dann erscheint die Geisterrolle in persönlichen und kollektiven Katastrophen – so lange, bis wir sie endlich anerkennen.
Ich kann daher Makellosigkeit als eine wichtige Haltung für Weltarbeit ansehen. Schon des öfteren habe ich Don Juan Matus zitiert:
Der Tod ist der einzige weise Ratgeber, den wir haben. Immer wenn du, wie es bei dir meistens der Fall ist, das Gefühl hast, daß alles falsch läuft und dir das sichere Ende bevorsteht, dann wende dich an deinen Tod und frage ihn, ob das zutrifft. Dein Tod wird dir sagen, daß du unrecht hast; daß nichts wirklich wichtig ist, außer seiner Berührung. Dein Tod wird dir sagen: „Ich habe dich noch nicht angerührt.“
Auf der kollektiven Ebene gehört dazu, immer wieder zu schauen, was auf den Komposthaufen der Geschichte gehört. Im damaligen Beitrag hatte ich schon Rainer von Vielens Lied “Wenn die Welt untergeht” eingebunden, was ich hiermit noch mal tue, denn es bringt die Sache auf den Punkt:
Manchmal bleibt uns nur, die Kontrolle aufzugeben und dem Prozess zu folgen. Insofern gehört zu der beschriebenen Geisterrolle auch Loslassen bis hin zu Aufgeben. Und das was wir da loslassen auch betrauern.
Damit ich nicht falsch verstanden werde: Das meint kein Patentrezept für alle Lebenslagen, schliesslich handelt es sich nur um eine Geisterrollen von vielen, und dazu gibt es noch viele Rollen, die längst von wechselnden Menschen ausgefüllt werden. Allerdings scheint mir diese eine Rolle (wiederum: in unserer Kultur) eine der am stärksten unterdrückten zu sein, weshalb ich ihr einen eigenen Beitrag widme.