Big Data als verzweifelter Versuch, die Kontrolle zu behalten
Mit ein paar Monaten Verzögerung habe ich jetzt das Probeheft der Zeitschrift “Wirtschaftsinformatik & Management” durchgelesen, das sich kurz vor Edward Snowdens Enthüllungen mit dem Thema Big Data beschäftigt. Wenige Wochen später hätte diese Ausgabe vermutlich ganz anders ausgesehen… Der Artikel “Erstellung von Technologie- und Wettbewerbsanalysen mithilfe von Big Data” formuliert das Problem:
Vor dem Hintergrund globaler dynamischer Märkte und der täglich erlebten Informationsflut wird es immer schwieriger, den Überblick zu behalten. Alle Entscheider(innen) benötigen zusammenhängende und objektive Informationen, die schnell und kompakt Ein- und Überblick geben in der komplexen Welt der Datenflut.
Big Data ist letzten Endes nur mehr desselben, nämlich mehr Kontrolle bei der kleinen Minderheit der so genannten “Entscheider”, während die große Masse, die die eigentliche Arbeit tut, gerade nicht entscheidet. Durch Big Data soll das Informationsgefälle noch größer werden - wie auch NSA & Co. gerade demonstrieren. Das funktioniert aber nicht, wie Wolfgang Berger in seinem Buch Business Reframing erkannt hat:
Das Fließband der wirtschaftlichen Entwicklung, mit der wir Schritt halten müssen, gehorcht nicht uns, sondern anderen Gesetzen. Unternehmen, Staaten, Körperschaften, Gemeinden, Behörden, Institutionen und Verbände lassen sich nicht beherrschen, nicht kontrollieren, nicht führen - sie lassen sich nicht mehr managen. Unsere Krise ist eine Herrschaftskrise, eine Kontrollkrise, eine Führungskrise. Herrschaft zerbricht, Kontrolle entgleitet, Führung zerrinnt.
Ich als Informatiker sage es ganz deutlich:
Computer sind nicht geeignet, um mit der steigenden Komplexität unserer menschlichen Gesellschaft fertig zu werden. Gleiches gilt für einzelne Menschen. Das können nur Gruppen von möglichst unterschiedlichen Menschen, die zusammen arbeiten und dabei kollektive Intelligenz oder noch besser kollektive Weisheit entfalten.
Holakratie bzw. Holacracy ist dafür ein hervorragendes Konzept für Organisationen aller Art. Es verteilt die Macht innerhalb einer Organisation viel gleichmäßiger, so dass es am Ende keine separaten “Entscheider” mehr gibt, weil diejenigen über das entscheiden, was in ihren Zuständigkeits- und vor allem Tätigkeitsbereich fällt. Für “Führungskräfte” bedeutet das einerseits einen teils großen Machtverlust, andererseits aber auch eine spürbare Entspannung und Entlastung. Für die Organisation bedeutet es schlicht, dass sie viel besser funktionieren kann als mit hierarchischer bzw. heroischer Führung. Postheroisches Management ist ein weiteres Stichwort.
Auch Otto Scharmer hat die Zeichen der Zeit erkannt, wenn er schreibt
Führung kann zudem nicht länger nur hierarchisch ausgerichtet sein, sondern es geht um den Aufbau gemeinsamer Wahrnehmungs–, Willensbildungs– und Handlungsfähigkeit.
Damit das gelingen kann, ist die Haltung der Tiefen Demokratie entscheidend wichtig, die jedes einzelne Wesen und sogar jeden Anteil eines Wesens und von sich selbst als gleichberechtigt anerkennt. Denn nur wenn klar ist, dass jeder Beitrag - selbst wenn er auf den ersten Blick als Bremse oder gar Rückschritt erscheint - wertvoll ist und zur Entfaltung des Ganzen beiträgt, kann kollektive Weisheit wachsen.
Eine andere, weniger systematische, dafür tiefer gehende Form solcher Zusammenarbeit ist Worldwork, wie Arnold Mindell es entwickelt hat. Nach Warschau fahre ich unbedingt im nächsten Jahr!
Um zum Schluss noch mal auf Big Data zurück zu kommen: In einem anderen Artikel aus der Zeitschrift habe ich George Dysons Definition für Big Data gelesen, die ich sehr aufschlussreich finde:
Big Data ist das, was passiert, wenn die IT-Kosten für das Speichern der Daten niedriger sind als die Arbeitskosten für die Entscheidung, die Daten wegzuwerfen.
So gesehen dürfte die NSA noch gar nicht bei Big Data angekommen sein…
Update vom 17.10.: Auch wenn es mit Big Data nur sehr am Rande zu tun hat, diese Vortragsfolien über Management Brainfucks im Bereich der Softwareentwicklung sind absolut sehenswert!