Führen heisst dem Prozess folgen
In Arnold Mindells Buch Der Weg durch den Sturm, das ich gerade wiederholt lese, bin ich an der Stelle hängen geblieben, wo er über das Esalen-Institut schreibt.
Die Gemeinschaft war seit dem Tode von Dick Price, einem ihrer Leiter, am Rande eines Übergangs.
Nun die Stelle, auf die es mir ankommt:
Esalen litt an der Agonie eines jeden kleinen Planeten, der seine Ganzheit sucht. Viele seiner besten Führungspersönlichkeiten waren gestorben. Fritz Perls war tot. Virginia Satir war eben gestorben. Harry Sloan war gestorben, und Dick Price war gerade umgekommen. Welche Weisheit hätte das Tao dadurch vermitteln können, dass alle Leitfiguren starben? Nicht nur in Esalen, sondern überall auf der Welt fehlen uns die Führungspersönlichkeiten, gibt es zu wenig überzeugende Führerschaft. Wo sind die Anführerinnen der Welt? Die Feldtheorie hilft uns, diese Frage zu verstehen. Wir projizieren unsere Ganzheit auf einzelne Frauen oder Männer, welche in Wirklichkeit unseren Projektionen nicht gewachsen sind. Die Menschen in leitenden Stellungen sind nicht schlecht oder minderwertig, aber Führerschaft ist eine Rolle, ein Zeitgeist, der nur von uns allen ausgefüllt werden kann. Die beste Führerin ist im besten Fall nur eine Facilitatorin für die Weisheit, die schon in einer Gruppe vorhanden ist. Ein einzelner Regenmacher ist zu wenig. Die Idee, dass es einen besten Anführer gibt, muss sterben, weil sie die Verantwortung und Bewusstheit für das wegnimmt, was von jedem Individuum getan werden muss. Die Idee von einem großen Anführer ist verkrüppelnd, weil die wirkliche Führerin überall und jederzeit irgendeine beliebige Person ist, welche die Art des Prozesses erkenne, der geschehen will, und Raum dafür schafft, dass er geschehen kann. Leiter und Führerinnen sind jene, welche ihre Bewusstheit einsetzen, um das Tao zu erspüren.
Dabei können wir allerdings von historischen Führungspersönlichkeiten viel über das Prinzip Führung lernen.
Wir erleben gerade einen totalen Kontrollverlust. Unsere Konsensrealität löst sich auf, weil kein Konsens über die Realität mehr besteht, und alles, woran wir geglaubt haben, landet auf dem Komposthaufen der Geschichte. Diese Spannungen gilt es auszuhalten, und zwar wir alle. Im derzeitigen Chaos ist niemand mehr für etwas “zuständig”, worum sich die anderen dann nicht mehr kümmern müssten. In dieser Krise liegt auch eine große Chance, vieles neu und anders zu machen als bisher. Dabei finde ich das Bild des Komposthaufens wichtig, denn darin “verschwindet” nichts einfach so, sondern alles wird umgewandelt und bildet den Nährboden für das Neue. Und manchmal wachsen auch die Nachkommen alter Pflanzen auf dem Kompost und sorgen so für eine gewisse Kontinuität.
Nicht nur des Tags wegen verweise ich auch hier auf Holakratie als ein ganzes System, das Führung in einer Organisation flüssig auf alle verteilt. Liquid Democracy scheint mir ein ebenso nützliches Werkzeug zu sein. Im Interview in der aktuellen evolve zeigt Marina Weisband ein erstaunliches Verständnis von Politik, das uns in der heutigen Zeit weiter bringen kann:
Es gibt politische Ansichten, die brauchen wir nicht, weil sie nichts mit Politik zu tun haben, sondern auf Hass beruhen, wie beispielsweise Rechtsextremismus. Die Konservativen allerdings brauche ich. Und zwar deswegen, weil ich ein Mensch bin, der sehr nach vorne gewandt ist, der in Richtung Zukunft strebt. Aber Menschen können sich nur so schnell entwickeln, wie es für sie möglich ist, das betrifft sowohl unsere kulturelle Evolution als auch unsere biologische. Unser Gehirn ist immer noch auf dem Stand des Mittelalters. Wir dürfen eine Gesellschaft also nicht zu schnell verändern, weil sie sonst aus dem Ruder laufen kann. Wenn ich Dinge zu schnell verändere und hinterfrage – z.B. “Was ist eigentlich Familie?”, “Was für eine Art von Liebe ist erlaubt?” –, dann riskiere ich, dass die Gesellschaft mit einer Debatte um Werte nicht hinterherkommt. Das braucht Zeit. Und diese Zeit ist konservativ, weil wir ständig innehalten und sagen: " Moment mal. Über die Anerkennung homosexueller Lebensgemeinschaften müssen wir noch mal reden." Selbst wenn ich denke, dass die andere Seite Unrecht hat, ist es dennoch wichtig, dass wir als Gesellschaft diese Debatte führen.
Dazu passt auch die aktuelle Alternativlos-Folge 35 über Diskussionskultur. Wenn wir nicht mehr miteinander reden, stehen wir ganz kurz vor einem Krieg. Deshalb habe ich immer noch, und gerade jetzt, ein Herz für Nazis. Und ich habe große Sorgen, so wie das “Pack” in Heidenau und anderswo, und nehme deshalb auch deren Sorgen ernst.
Zum Abschluss noch mal zurück zur evolve, Ausgabe 4 hat sich komplett dem Thema Führung gewidmet, unter der Überschrift “FÜHRUNG NEU DENKEN – Eine Kultur jenseits von Kontrolle und Konsens”.
Und da ich gerade eine ganze Woche auf einem Seminar meiner Ausbildung war, ist mir noch mal bewusster geworden, wie dringend die Welt gerade Weltarbeit braucht.
Nachtrag: Jakob Augsteins Kolumne sorgt dafür, dass dieser Beitrag nun auch das Tag “Vertrauen” bekommt:
Die Flüchtlingskrise ist nur ein weiteres Beispiel: In wesentlichen Fragen ist der Politik die Kontrolle längst entglitten. Die alte Ordnung ist perdu, und kein Kanzler der Welt kann sie wiederherstellen. Woher kommt da die Sicherheit? Aus dem Vertrauen.
Nachtrag vom 26.09.: Den perfekten Einstieg in Weltarbeit bzw. Worldwork bietet die Broschüre von Max Schupbach mit drei Fallstudien, die mich beim Lesen immer wieder zu Tränen gerührt haben.