Selbsteigentum als evolutionäre Errungenschaft
Das Beispiel Selbsteigentum verdeutlicht wohl noch besser als das Patriarchat, wie Ken Wilbers Buch Halbzeit der Evolution meine Sichtweise auf verschiedene Themen verändert hat. In meiner Auseinandersetzung mit den Voluntaristen hatte ich im Beitrag Eigentum als Instrument von “Teile und herrsche” noch von
einer esoterischen Angelegenheit namens “Selbsteigentum”
geschrieben, mit Verweis auf Hans-Herrmann Hoppes Buch Eigentum, Anarchie und Staat. Vielleicht lese ich das im Anschluss an Wilber doch mal.
Was hat nun meinen Sinneswandel ausgelöst? Nun, ich staunte nicht schlecht, als ich bei Wilber im 15. Kapitel las:
So wie gewaltfreie Anerkennung und Schutz von Eigentum nur vom Gesetz garantiert wurde, so wurden schwerwiegende Verletzungen der Personalität durch gesellschaftliche Konvention verboten. Eigentum an Gütern war nicht mehr nur den stärksten oder aggressivsten Menschen vorbehalten, sondern jede Rechtsperson hatte legales Recht auf Besitz, den sie durch eigenen physischen Austausch (oder sekundär durch Handel) erworben hatte. Sollte das Gesetz nicht verletzt werden, mussten die Individuen sich gegenseitig durch Austausch gegenseitiger Achtung anerkennen. Eine Person besaß Eigentum, und die Achtung vor diesem Eigentum erforderte die Anerkennung und Achtung der Personalität. Vor der ichhaften Periode gab es kaum so etwas wie Personen uund legalisiertes Eigentum.
Wohlgemerkt, Wilber argumentiert hier anders als die Voluntaristen, die Selbsteigentum als Kategorie a priori setzen; er zitiert dazu Fichte:
Das Recht auf exklusiven Besitz entsteht durch gegenseitige Anerkennung; ohne diese Vorbedingung existiert es nicht. Alles Eigentum beruht auf der Vereinigung vieler Willen zu einem Willen.
Jedenfalls wird schon beim Wilber-Zitat klar, warum Selbsteigentum tatsächlich eine evolutionäre Errungenschaft ist, etwas, das sich gegenüber brutaler Gewaltherrschaft lohnt zu verteidigen: Eine Person besaß Eigentum, und die Achtung vor diesem Eigentum erforderte die Anerkennung und Achtung der Personalität.
Lassen wir Wilber weiter selber sprechen:
Alle Fakten weisen darauf hin, dass der Vater (wir befinden uns noch im Patriarchat) zu Beginn der frühen und konkreter dann der mittleren ichhaften Periode der erste bedeutende und weitverbreitet anzutreffende Besitzer persönlichen Eigentums wurde. Das Eigentum des Vaters wurde geschützt, nicht durch seine Muskeln, sondern durch ein vom Gesetz verkörpertes kollektives Bewusstsein. Dem König “gehörte nicht mehr die Welt” – der individuelle Vater, als “Herr über sein Heim/seine Burg”, rang dem Kriegsherrn wieder einen Teil seines Besitzes ab.
Diesen Prozess, dass die frühen Herrscher ihre Herrschaft dadurch stabilisierten, dass sie diese auf viele Männer verteilten, hatte ich bisher nur durch die anarchistische Brille betrachtet und dadurch als “die Herrschaft wurde ausgeweitet” gedeutet. Dass aber eben auch das Herrschafts_gefälle_ dadurch kleiner wurde, ist mir erst durch Wilber klar geworden.
Weiter im Text:
Wichtiger war noch, dass der Vater, der nunmehr legal Eigentum besaß, zum erstenmal in der Geschichte eine Rechtsperson wurde, ein “Gesetzlich anerkanntes Selbstbewusstsein” oder Ego. Damit wurde erstens sein individuelles Selbstbewusstsein – das heroische Ego, dessen Evolution so mühsam erkämpft worden war – gesetzlich anerkannt und geschützt. Alle, die das Gesetz anerkannten, erkannten auch das persönliche Selbstbewusstsein an und nahmen am gegenseitigen Austausch dieses Bewusstseins teil. Zweitens: Eine Rechtsperson konnte nicht mehr Sklave oder materielles Eigentum einer anderen Person sein. Anders ausgedrückt, eine Rechtsperson war unter anderem ihr eigenes Eigentum. Wie Locke es formulierte: “Jeder Mensch hat Eigentum an seiner eigenen Person” – oder, wie die Umgangssprache es heute formuliert: Jedermann durfte “er selbst” sein.
Dies ist eine Errungenschaft, etwas, das es vorher noch nicht gegegen hatte – allerdings auch nur ein Übergangsstadium:
Jede Rechtsperson, jedes ichhafte “Ich”, war sein eigenes Eigentum, sein eigenes “mich”, und konnte angemessenes externes Eigentum, also “mein” besitzen. Jedes Ich hatte sein eigenes mich und mein. Das mag spirituell eingestellten Menschen sehr egoistisch und egozentrisch erscheinen; doch sollten wir daran denken, dass die Evolution sich gerade erst vom Präpersonalen zum Personalen, vom Animalischen und Subhumanen zum Individuellen und Persönlichen bewegte. Das “Ich-mich-mein” war das notwendige Korrelat dieser Evolution. (Es verschwindet wieder im Überbewusstsein, aber erst nachdem es seine Übergangsrolle gespielt hat.)
In meinem Beitrag Wilber, Evolution und Eigentum hatte ich schon seine Unterscheidung zwischen Differenzierung und Dissoziation gewinnbringend auf das Konzept von Eigentum angewandt, war allerdings noch nicht bis zum Kern der Sache vorgedrungen. Insgeheim hatte ich damals noch Eigentum an sich für eine Dissoziation gehalten. An diesem Punkt bewahrheitet sich noch mal, was ich schon im Zusammenhang mit dem Patriarchat schrieb: Die integrale Theorie lädt mich ein, alles, was ich für komplette Fehlentwicklungen halte, noch mal genauer anzuschauen.
Dabei war auch mit dem (Selbst)eigentum nicht alles super:
Es war nicht zu bedauern, dass der Vater nun eine Person war, wohl aber, dass die Mutter es nicht war. Der Vater war gesetzlich geschützt, nicht aber die Sklaven – darin lag die Tragödie.
Hier beschreibt Wilber noch mal besonders deutlich, worin die evolutionäre Errungenschaft lag:
Eine wirkliche Person sein heisst, Verantwortung und Urheberschaft übernehmen und dadurch von der prä-personalen Sklaverei zur personalen Autonomie übergehen. Es ist, kurz gesagt, die Begründung eines freien ichhaften Austausches.
Direkt im Anschluss wird es sehr prozessorientiert:
Die Unterbrechung oder Störung ichhaften Austausches (historisch oder ontogenetisch) durch Verdrängung oder Überschussverdrängung führt zu einer Spaltung des Ego in solche personae, die akzeptabel, und solche, die nicht akzeptabel, nicht benötigt oder gefürchtet sind. Die nichtakzeptablen personae werden als “Schatten” oder “unbewusste personae” entfremdet. Eine unbewusste persona oder ein Schatten wird zu einem “versteckten Gesicht”, einer “geheimen Persönlichkeit”, die sich ständig in die bewussten Kommunikationen des Ego einschleicht, sie verzerrt und zensiert. Eine Schattenpersona ist die Art und Weise, wie ein Individuum Kommunikation vor sich selbst verbirgt; es ist ein persönlicher Text, dessen Autorenschaft abgeleugnet wird, eine Stimme, zu der man sich nicht bekennt, ein unerlaubtes Antlitz.
In der Prozessarbeit nennen wir das Sekundärprozesse, die sich in Doppelsignalen äußern.
Ein paar Seiten später schreibt Wilber wiederum:
Eigentum und Person sind – über ihre vorübergehende Nützlichkeit hinaus – nichts als “Stolpersteine” oder “Blockierungen” auf dem Weg zum höheren Bewusstsein.
Damit kann ich leben. Das heisst auch, ich habe hier bisher keinen Müll geschrieben, sondern war nur ein wenig einseitig. Thank you Ken!