Sinn und Unsinn des Patriarchats oder: Wie ich mal wieder das Kind mit dem Bade auskippte
Der heutige integrale Salon zum Thema Integrales Christentum mit Christian Schmill bringt mich nun nach Mitternacht noch zum Bloggen. Dabei ist das Christentum nur der Aufhänger, der mich in einen integralen Flow gebracht hat; ich löse einen Teil meines Versprechens von Das Atman-Projekt und Halbzeit der Evolution ein, nämlich ausführlicher über selbiges zu schreiben.
Das ist einer der Hauptgründe, warum ich die integrale Theorie mag: sie weist mich immer wieder darauf hin, wo ich das Kind mit dem Bade ausgekippt habe und lädt mich ein, genauer hinzuschauen, was davon vielleicht doch bewahrenswert ist. Offensichtlich hatte ich es hier im Blog noch gar nicht erwähnt, im Herbst 2017 habe ich einen Satz gesagt, der mich damals selbst erstaunte: “Ich werde konservativ.” Das meinte und meine ich ganz im Sinne des Wortes konservativ, nämlich wie Wikipedia schreibt von lateinisch conservare „erhalten“, „bewahren“ oder auch „etwas in seinem Zusammenhang erhalten“.
Also eben nicht immer gleich das Kind mit dem Bade auskippen, sondern das Kind bewahren und nur das dreckige Wasser wegschütten.
Ja, das gilt auch für das heikle Thema Patriarchat, das in diesem Blog schon öfters Thema war, z.B. bei Warum unser Geldsystem patriarchal ist. Bisher schrieb (und sprach) ich darüber immer mit dem Tenor, das ist alles Murks und muss überwunden werden. Nebenbei bedeutete das auch, wenn im Patriarchat alles schlecht war, dann war es vorher besser oder auf jeden Fall mindestens genau so gut. Anders gesagt: Das Patriarchat stellte keinerlei Fortschritt dar, sondern einen großen Rückschritt oder mindestens Stillstand.
Waren die letzten 5.000 bis 7.000 Jahre Menschheitsentwicklung also völlig überflüssig & für die Katz? Damit würdigen wir Menschen unsere Geschichte völlig herab und machen uns selbst schlecht. Also schaue ich lieber noch mal genauer hin:
Ausgangspunkt des Patriarchats war eine matriarchale Gesellschaft, in deren Mittelpunkt die Verehrung der Großen Mutter bzw. der Großen Göttin stand. Wilber differenziert zwischen diesen beiden, die sich im allgemeinen Bewusstsein oft überlagern. Jedenfalls war auch im Matriarchat nicht alles super:
Denn das Wesentliche an der Großen Mutter war, dass sie die Auflösung, die Opferung des separaten Ich forderte.
Wir erinnern uns, was ich schon im einleitenden Beitrag zitierte:
Jeder sehnt sich zutiefst nach wahrer Transzendenz, nach Atman-Bewusstsein, nach der Höchsten Ganzheit, fürchtet jedoch zugleich mehr als alles andere den Verlust seines separaten Ich, dessen “Tod”.
Deshalb Wilber weiter:
Man beachte: Die Große Mutter forderte die Auflösung des Ich. Dieses kann sich jedoch in zwei ganz verschiedene Richtungen auflösen: entweder durch Transzendenz mit einem Fall nach vorne ins Überbewusste, oder aber rückwärts gerichtet durch einen Rückfall uns Unbewusste, die Austilgung der Persönlichkeit statt ihrer Transzendenz. Für einige wenige war und ist die Große Mutter das Eingangstor zum subtilen Überbewusstsein, der Weg, die Persönlichkeit zu transzendieren. Für die meisten Menschen jedoch war sie jene furchtbare Form von trägem Beharrungsvermögen, die das Herauslösen einer wahrhaft starken Persönlichkeit aus dem Uroboros oder dem Typhon verhinderte.
Dem gegenüber stellt das Patriarchat eine Weiterentwicklung des Bewusstseins dar hin zu einer individuellen Persönlichkeit. Später schreibt Wilber unter der Überschrift Etwas noch nie Dagewesenes von der “Geburt des Ego”.
Ja, genau, das Ego, auf dem so viele Leute so ausgiebig herumhacken, und das teilweise auch zu Recht. Doch um das Ego transzendieren zu können, muss es sich erst mal überhaupt entwickeln. Und dafür bot und bietet das Patriarchat einen reichhaltigen Nährboden.
Damit ist der wesentliche Sinn des Patriarchats knapp umschrieben. Es war also tatsächlich nicht alles schlecht im Patriarchat.
Andererseits war und ist auch nicht alles gut im Patriarchat; kommen wir daher auch zum Unsinn des Patriarchats besonders in seiner abendländischen Ausprägung. Dazu Wilber ausführlich unter der Überschrift Mythische Dissoziation:
Zu dieser Entstehungsgeschichte gibt es noch eine wichtige Fußnote zu machen, eine Fußnote, die historisch gesehen fast ein eigener Text wurde – und ein ziemlich problematischer dazu. Das Ego hatte eine große Leistung vollbracht, als es sich von seiner Bundung und Unterwürfigkeit gegenüber der Großen Mutter losriss und sein eigenes, unabhängiges, mit eigenem Willen ausgestattetes Bewusstseinszentrum etablierte. Das kommt in den Heldenmythen zum Ausdruck. In seinem Drang jedoch, seine Unabhängigkeit zu sichern, hat das Ego die Große Mutter nicht nur transzendiert, was durchaus wünschenswert war, sondern verdrängt, was sich als verheerend erwies. Dabei hat das Ego – nur das abendländische, denn im Osten verlief das etwas anders – nicht nur seine erwachte Selbstsicherheit, sondern blinde Arroganz demonstriert. Nicht mehr Harmonie mit dem “Himmel”, sondern “Eroberung des Weltraums”, keine Achtung mehr vor der Natur, sondern technologischer Angriff auf die Natur – das wurde die Devise. Um sich arrogant über die Schöpfung erheben zu können, musste die Ego-Struktur die Große Mutter mythologisch, psychologisch und soziologisch unterdrücken und verdrängen. Und sie verdrängte sie in allen ihren Formen. Es ist eine Sache, sich Freiheit von den Fluktuationen der Natur, von Emotionen, Instinkten und Umwelt zu erringen, und eine ganz andere, sich diesen zu entfremden. Mit anderen Worten: Das abendländische Ego erlangte nicht nur seine Freiheit von der Großen Mutter, sondern es kappte seine tiefe Wechselbeziehung mit ihr. Daraus entwickelte sich eine ernsthafte Störung, nicht einfach zwischen dem Ego und der Natur, sondern zwischen Ego und Körper.
Diese Dissoziation reicht bekanntlich bis ins Herz unseres Geldsystems, und damit bleibt meine umfassende Kritik am Patriarchat, so wie es sich im Nahen Osten und Europa entwickelt hat, weiterhin gültig. Es war tatsächlich sehr vieles schlecht am Patriarchat; nur eben nicht alles. Wilber übernimmt dafür von Lancelot Law Whyte den Begriff Europäische Dissoziation. Er schreibt später über die Figur des Teufels:
Im Idealfall sollten die unteren Stadien transzendiert und in und durch die höheren Stadien integriert werden. Die höheren Stadien müssen anfänglich gegen die niederen ankämpfen, um sich aus ihnen zu befreien. Dieser Kampf ist aber im Abendland zu weit gegangen, wo er nicht nur Differenzierung, sondern Dissoziation, nicht Transzendenz, sondern Verdrängung erzeugte. Auch der Mensch im Osten entwickelte das mentale Ego, kämpfte mit dem Uroboros und Typhon (siehe Indras Triumph über Vritra), doch endete dort das Ringen mit Differenzierung und Transformation. Im Osten wurden daher alle alten Mythen von der Großen Mutter, der Schlange und dem Typhon aufgenommen und in eine neue und höhere Mythologie integriert. Zugegeben, die alten Götter und Göttinnen wurden zu Dämonen und geringeren Göttergestalten. Doch wurde ihre Existenz anerkannt und dann höheren Gottheiten dienstbar gemacht, oder sie wurden sogar als deren Manifestationen angesehen. Auch der Osten hat seine Satansgestalten. Diese galten jedoch als niedere Manifestationen Gottes und als Beschützer des Dharma, solange man sie nicht um ihrer selbst willen verehrte.
Nun noch zu den unterschiedlichen Rollen von Frauen und Männern bei der Entstehung des Patriarchats (der Name kommt nicht von ungefähr):
Da das Bild der Mutter ganz natürlich in den Bereich Geburt-Körper-Erde eingebettet war, fiel die Entwicklung der mentalen Kultur dem Bereich der Väter zu. Das weibliche Prinzip war von Beginn an der Erde verbunden, weshalb die Transformation zum Himmel weitgehend dem männlichen Prinzip überlassen blieb.
Wilber zitiert dazu Ruth Underhill:
Die ‘Väter’ sind die Vertreter der Gesetze und der Ordnungen, von den Tabugesetzen der Frühzeit bis zur Rechtsprechung der Moderne; sie übermitteln die höchsten Güter der Zivilisation und Kultur im Gegensatz zu den Müttern, welche die höchsten, d.h. tiefsten Werte der Natur und des Lebens verwalten. So ist die Väterwelt die Welt der Kollektivwerte, sie ist historisch und bezogen auf den relativen Stand der Bewusstseins- und Kulturentwicklung der Gruppe.
Diese Aufteilung allein muss nicht zwangsläufig zu einer Beherrschergesellschaft führen; passiert ist das bekanntlich dennoch:
Zweifellos war hauptsächlich die Sphäre der sozio-kulturellen Kommunikation die Bewusstseinssphäre, zu der das aufkommende Patriarchat dem weiblichen Prinzip den Zugang verwehrte. Mit der Verweigerung freien mentalen Austausches, freier Ideenentfaltung und freien Zugangs zum Himmel wurde dem weiblichen Prinzip der Zugang zum neu entstehenden Geist verwehrt.
Zeugen dafür sind Adam und Eva:
Da der Körper als Bedrohung des ichhaften Atman-Projekts galt, betrachtete man das Feminine als Gefahr für den maskulinen, ichhaften, kommunikativen Himmel. Kurz gesagt: Als Adam fiel, da zerfiel er in zwei Wesenheiten: Adam der Jüngere und Eva, männlich und weiblich, Himmel und Erde, Psyche und Soma. Und Adam Junior war ein Sexist. Die biblische Schöpfungsgeschichte verbirgt dies sorgfältig, indem das erste Menschenwesen “Adam” genannt wird, so als wäre dieses proto-humane Wesen männlichen Geschlechts gewesen. Da aber Eva aus Adam gemacht wurde und ursprünglich in ihm enthalten war, ist die einzig mögliche Schlussfolgerung, dass der ursprüngliche Adam nicht männlich war, sondern Hermaphrodit oder bisexuell. Adam Senior war also in Wirklichkeit der Ur-Hermaphrodit, aus der dann die individuelle weibliche Mutter und der individuelle phallische Vater entstanden. Die schliessliche Befreiung des weiblichen und des maskulinen Prinzips aus der Chthonischen Mutter erfolgte beim Auftreten des mentalen Ego: einem freien Adam und einer freien Eva. In der Genesis ist nur die Rede vom Auftreten des freien Adam; die freie Eva trat nicht in Erscheinung.
Laut Genesis sagt Gott zu Adam:
Weil du auf die Stimme deiner Frau gehört und von dem Baum gegessen hast, von dem ich dir geboten hatte, davon nicht zu essen, ist der Erdboden deinetwegen verflucht.
Wilber dazu:
Adam wurde dafür bestraft, dass er auf Evas Stimme gehört hatte, das heisst, dass er dem Weiblichen gestattet hatte, in den mental-kommunikativen Bereich einzutreten.
Ja, es war durchaus nicht alles gut im Patriarchat. Dennoch schließe ich mit Wilbers Fazit:
Aus verschiedenen Gründen, sexistischen und anderen, blieb also der monumentale Übergang zum heroischen mentalen Ego weitgehend dem männlichen Prinzip überlassen. Schütten wir aber nicht mit dem Badewasser des Sexismus zugleich das Kind tatsächlicher Transformation aus. Im Patriarchat war nämlich eine echte Errungenschaft verborgen: das mentale Ich, ein durch Selbstbewusstsein charakterisiertes Ich höherer Ordnung, zustandegekommen durch eine wahrhaft evolutionäre Mutation des Bewusstseins. Diese Tatsache müssen wir freudig begrüßen, so sehr wir auch ihre negativen Seiten verdammen.