Gesellschaftliche und globale Dissoziation
Je mehr ich mich mit dem psychischen Phänomen Dissoziation beschäftige, um so deutlicher erkenne ich Dissoziation auch gesellschaftlich & auf die ganze Menschheit bezogen. Was verstehe ich darunter?
Dissoziation besteht ja darin, dass sich ein Mensch nicht als eine einheitliche Person erlebt, sondern als eine Zusammensetzung mehrerer, voneinander getrennter Personen, die z.T. voneinander wissen, z.T. auch nicht.
Mich erinnert das an den Begriff der “Parallelgeselschaften”. Konkret fiel mir als erstes ein, was Rainer Voss in dem Film Master of the Universe über die Investmentbanking-Szene erzählt:
Die Superreichen bleiben unter sich, schotten sich in ihren Ghettos vom Rest der Gesellschaft ab. Kaum einer der Bundestagsabgeordneten wohnt in einer Mietwohnung. Unliebsame Menschen werden, wie Gustl Mollath, in die Psychiatrie abgeschoben. SexarbeiterInnen gelten von vornherein als unglaubwürdig, und wer containert, als asozial. Dabei ist doch wohl eher das massenweise Wegwerfen noch genießbarer Lebensmittel als asozial einzustufen.
Was dabei die Dissoziation ausmacht, ist, dass diese Menschen, die doch alle hier in Deutschland leben (zu den globalen Zusammenhängen komme ich noch), nichts miteinander zu tun haben wollen – und auch alles dafür tun, dass sie nichts miteinander zu tun haben. Sie blenden sich regelrecht gegenseitig aus.
Kommen wir nun zur Wirtschaft. Vor kurzem habe ich das Buch Soll und Haben von Jane Gleeson-White gelesen, in dem sie die zentrale Bedeutung der doppelten Buchführung für die Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaft belegt. Mit der doppelten Buchführung dokumentiert jeder Kaufmann, jedes Unternehmen die eigenen Ausgaben und die eigenen Einnahmen. Nun sind aber die Ausgaben von Unternehmen A automatisch Einnahmen vieler anderer Unternehmen sowie der Angestellten des Unternehmens. Und die Einnahmen von Unternehmen A stellen Kosten in anderen Unternehmen und bei Endverbrauchern dar. Saldenmechanische Binsenweisheiten mal wieder.
Unsere Wirtschaft ist nun so organisiert, dass jedes einzelne Unternehmen seine Kosten, damit auch seine Ausgaben, minimieren will & seine Erträge, also auch seine Einnahmen maximieren. Saldenmechanisch heisst das aber nichts anderes als dass jedes Unternehmen die Einnahmen aller anderen minimieren und die Ausgaben aller anderen maximieren will. Anders formuliert: möglichst viel abzocken & möglichst wenig dafür zurückgeben. Ausbeutung ergibt sich da ganz automatisch.
Eine weitere Dissoziation besteht zwischen Schuldnern & Gläubigern. Um darauf hinzuweisen, spricht Jörg Buschbeck konsequent von der Guthabenkrise, denn wer Schulden abbauen will, muss in gleicher Höhe auch irgendwo Guthaben abbauen. Mit dem auf der Hand liegenden Beispiel Deutschland und Griechenland kommen wir damit auch auf die globale Ebene. Wir Deutschen als Gläubiger tun so, als seien die Griechen ganz alleine für die Schuldenkrise verantwortlich. Dabei brauchen wir Deutschen (natürlich nicht nur, aber auch) die Griechen als Schuldner, um unseren Leistungsbilanzüberschuss zu finanzieren.
Das gilt global & wird immerhin von den Erlassjahr-Leuten gesehen.
Ja, auf der Ebene der Menschheit könnte ich jetzt unzählige Konflikte, Verdrängungen & Abspaltungen auflisten. Lieber gehe ich noch mehr auf das Wesen der Dissoziation ein. Psychisch hängt Dissoziation stark mit dem Erleben von Ekel, Scham, Angst & Schuld zusammen. Das Empfinden dieser Gefühle wurde zu stark, um es noch als einheitliche Person aushalten zu können, deshalb spalteten sich Teile ab, die sich teilweise auch voreinander ekeln, sich füreinander schämen, voreinander Angst haben oder sich schuldig fühlen. Das verhindert oder erschwert das Wieder-Integrieren dieser Anteile.
Genauso haben Menschen voreinander Angst, ekeln sich vor bestimmten anderen Menschen(gruppen), schämen sich für andere Menschen oder fühlen sich schuldig. Das spaltet die Menschheit. Im Umkehrschluss führt der Weg zu einer ganzen Menschheit darüber, dass wir uns einander nähern, gerade denjenigen, vor denen wir uns ekeln oder schämen oder fürchten.
Auch Rudolf Höss gehört zur Familie der Menschheit, wie Viktor Frankl. Maggie Thatcher gehört dazu wie Wangari Maathai, Mao Tse Tung wie Gandhi. Hiroshima und Nagasaki gehören zu unserer Geschichte wie Abu Ghuraib und die von den Taliban zerstörten Buddhastatuen und auch Gautama Buddha selber.
Jedes Verbrechen gegen die Menschlichkeit wurde und wird von Menschen begangen. Und da vermutlich alle, die das hier lesen, Menschen sind, haben wir auch alle damit zu tun. Viktor Frankl, der das Konzentrationslager überlebt hatte, sagte dazu:
Der Mensch ist das Wesen, das immer entscheidet. Und was entscheidet es? Was es im nächsten Augenblick sein wird. Und so ist er auch sein eigener Himmel und seine eigene Hölle, je nachdem.
Jede Begegnung von Ich und Du, jede Beziehung bedeutet daher Bewusstseinserweiterung für die Menschheit. Derzeit verhalten wir uns noch überwiegend wie dissoziierte Anteile in einem Körper: unserem Heimatplaneten, der Erde.
Das Kleine spiegelt sich im Großen. Wie innen, so außen. In diesem Bewusstsein kann jede Begegnung mit anderen Menschen zu Weltarbeit in der Haltung der Tiefen Demokratie werden.
Nachtrag: Ich werde mir auf jeden Fall den Film Beyond Punishment anschauen, der gute Schritte in diese Richtung zeigt.