Wilber, Evolution und Eigentum
Vor kurzem habe ich das erste richtig dicke Buch von Ken Wilber angefangen, Das Wahre, Schöne, Gute. Bisher war ich immer noch skeptisch vor allem was das Evolutionäre in Wilbers Theorie angeht. Es schwang mir ein gewisser blinder Fortschrittsglaube darin mit, nach dem Motto “später wird alles besser”.
Heute bin ich nun tatsächlich ein Wilber-Fan geworden, angeregt durch das 2. Kapitel “Im Licht unserer Zeit – Integrale Anthropologie und die Evolution der Kulturen”. Da geht es genau um diesen Knackpunkt der (kulturellen) Evolution.
Er geht darin (wie offenbar auch schon umfassender in seinem Buch Halbzeit der Evolution, das ich noch nicht gelesen habe) auf die Frage ein
Wie kann man vor dem Hintergrund von Auschwitz von einer kulturellen Evolution sprechen?
Damit ist klar, um blinden Fortschrittsglauben kann es ihm nicht gehen. Er weiss um die Schattenseiten der Evolution. Woher kommen diese? Ganz einfach:
Bei der Evolution und Entfaltung des Bewusstseins löst jede Phase bestimmte Probleme der vorangegangenen Phase, wirft aber zugleich hartnäckigere – und manchmal auch komplexere und schwerwiegendere – neue Probleme auf.
Und nun kommen wir zum Kern, der mich dazu bewegt, mitten in der Nacht zu bloggen, den Unterschied zwischen Differenzierung und Dissoziation in der Evolution:
Weil nun die Evolution mittels Differenzierung und Integration fortschreitet, kann es auf jeder Stufe zu Fehlentwicklungen kommen – je größer die Tiefe des Kósmos, desto mehr Krankheiten können auftreten. Eine der häufigsten Pathologien der Evolution entsteht, wenn aus einer überschießenden Differenzierung eine Dissoziation wird. Bei der Evolution des Menschen zum Beispiel ist es eines, Körper und Geist zu differenzieren, und etwas völlig anderes, sie zu dissoziieren. Es ist eines, Kultur und Natur zu differenzieren, etwas ganz anderes, sie zu dissoziieren. Differenzierung ist der Auftakt zur Integration; Dissoziation ist der Auftakt zur Katastrophe.
Das leuchtete mir spontan ein, & ich wendete es sogleich auf eine Frage an, die mich schon lange beschäftigt:
Was ist der evolutionäre Sinn des Konzepts von Eigentum?
An diese Stelle passt der Satz des Kängurus zum Thema, den ich immer wieder gerne zitiere
Ach, mein, dein – das sind doch bürgerliche Kategorien!
Eigentum differenziert also zwischen mein und dein. Anders ausgedrückt: auf einer ganz grundsätzlichen Ebene ist Eigentum einfach eine Zuordnung von Dingen zu Menschen. Diese Zuordnung geschieht nun ursprünglich nicht vollkommen willkürlich, sondern orientiert sich an der Nutzung und Verantwortung:
Das ist meins, weil ich mich darum kümmere.
Daraus folgt dann auch
Du kannst es auch benutzen, wenn du dich mit darum kümmerst.
So weit, so evolutionär sinnvoll. Zu einer Fehlentwicklung wird Eigentum in dem Moment, in dem ich sage
Das ist meins, deshalb kriegst du es nicht!
Das ist eine Dissoziation, denn ich begründe gar nicht mehr inhaltlich, warum ich dir mein Eigentum nicht gebe, sondern das Eigentum als solches reicht schon als Grund.
Und hier kommen wir zu einem weiteren Aspekt möglicher Fehlentwicklungen der Evolution, dem Unterschied zwischen natürlicher Hierarchie und pathologischer Hierarchie:
Im Evolutionsprozess wird alles, was auf einer Stufe ein Ganzes war, auf der nächsten Teil eines Ganzen. […] Ganze Atome sind Teile von Molekülen, ganze Moleküle sind Teile von Zellen usw. Alles ist ein Ganzes/Teil, ein Holon, das in eine “natürliche Hierarchie” eingefügt ist, eine Aufeinanderfolge zunehmender Ganzheit.
Nun zur möglichen Fehlentwicklung:
Aber was transzendiert, kann auch unterdrücken. Deshalb können normale und natürliche Hierarchien zu pathologischen Hierarchien, zu Herrschaftshierarchien degenerieren. In einem solchen Fall weigert sich ein arrogantes Holon, sowohl Teil als auch Ganzes zu sein; es möchte nur Ganzes sein. Es möchte nicht in gegenseitiger Abhängigkeit Teil von etwas Größerem als es selbst sein, es möchte keine Kommunion mit seinen Mit-Holons, es möchte sie mit selbstverliehener Handlungsvollmacht und Agenz beherrschen.
Genau das geschieht, wenn Eigentum zu einem Exklusivanspruch wird, einem Anspruch, der andere ausschliesst.
Eigentum im Sinne von Pflegnutzen/Commoning/Gemeinschaffen ist also der ursprüngliche, evolutionär sinnvolle Impuls, und die heutige Form des (geraubten) _Privat_eigentums eine evolutionäre Verirrung, die es zu korrigieren gilt. Zum Schluss noch mal Wilber:
Aber die einzige Möglichkeit, sich von pathologischen Hierarchien zu befreien, besteht darin, normale und natürliche Hierarchien zu akzeptieren, das heisst eine normale Holarchie, die das arrogante Holon wieder an seinen angestammten Platz zurückbeordert und in eine Wechselseitigkeit der Fürsorge, der Kommunion und des Mitleids integriert.
Wichtiger Nachtrag vom 28.01.2019: Selbsteigentum als evolutionäre Errungenschaft.