Von der Distanz zur Verbundenheit
Dieser Spruch auf einem Plakat hat mich besonders tief angerührt auf der Demo am 1. August.
Wir trainieren jetzt schon seit Monaten – und zwar global! – andere Menschen als potentiell gefährlich zu betrachten; und zwar insbesondere dann wenn sie uns nahe kommen. Dabei präsentiert sich der Staat als der große Beschützer mit Bußgeldern, Polizei und Ordnungsamt, mit Grenzkontrollen und Massenüberwachung.
Den Scherben war schon in den Siebzigern klar: Allein machen sie dich ein.
Social Distancing erscheint vor diesem Hintergrund als die neueste Form der uralten Teile und Herrsche-Strategie. Sich mit vielen anderen für eine gemeinsame Sache zusammenzutun gefährdet den Volkskörper und ist unter Strafandrohung zu unterlassen.
Die Klimastreiks von Fridays for Future sind durch den Lockdown monatelang erfolgreich verhindert worden. Auch Proteste gegen Pipelines wurden schlicht verboten und der Pipelinebau einfach durchgezogen. Diese Liste könnte ich noch lange weiterführen.
Die Nazis hatten das Buch von Johanna Haarer als Leitfaden, um schon Babys ihre angeborene Empathie auszutreiben. Heute haben wir “AHA – Abstand, Hygiene, Alltagsmaske”.
Mir selber geht es jedenfalls so, dass ich mit Maske nicht mehr gewillt bin, Bettlerinnen in der Bahn Geld zu geben. Ich ignoriere sie aktiv. Ohne Maske mache ich das manchmal auch, bin aber viel offener um ihnen auch mal was zu geben. Die Maske fährt also meine Empathie runter. Überhaupt werde ich sofort deutlich gedämpft, wenn ich so ein Ding aufhabe. Mein Körper stellt auf Überlebensmodus.
Rebellion ist so natürlich nicht möglich. Solidarität auch nicht.
Dabei werden diese Abstands- und Hygieneregeln auf verquere Art sogar noch als Solidarität hingestellt, denn: “du schützt damit nicht in erster Linie dich selbst, sondern die anderen – vor dir selbst!” Das macht es besonders perfide. Wir trainieren seit Monaten eben auch, uns selbst als gefährlich für andere zu betrachten. Der Staat schützt uns somit auch vor uns selbst.
Aufschlussreich ist in dem Zusammenhang, in welcher Geistesthaltung die heute omnipräsente Infektiologie, Bakteriologie und Virologie überhaupt entstanden sind. Dazu empfehle ich das Interview mit Dr. Anne Katharina Zschocke in der aktuellen Oya:
Im 19. Jahrhundert erlebte die Bakteriologie einen Aufschwung durch verbesserte Techniken, um Mikroben sichtbar zu machen. Wenn ich nicht mit meinen eigenen Augen, sondern durch ein Mikroskop schaue, verändert sich das Objekt meiner Wahrnehmung. Mikroskopie bringt per se einen verengten Blick mit sich, weil ich Einzelnes vergrößere, den Bildausschnitt verkleinere, also nicht mehr im Überblick wahrnehme, sondern stark fokussiere auf einen verengten Blickwinkel, und Enge führt zu Angst. Das Mikroskopieren wurde damals als Betrachten mit dem »bewaffneten Auge« bezeichnet. Es herrschte ein Zeitgeist des Kämpfens, der sich auch im wissenschaftlichen Denken niederschlug: So lautet eine Kapitel-Überschrift Charles Darwins in deutscher Übersetzung »Kampf ums Dasein«. Die führenden Forscher waren an Militärkrankenhäusern tätig und meist zu Soldaten ausgebildet – sie waren überzeugt: Hier ist meine Nation, wir sind die Guten; dort ist die Grenze, dort drüben sind die Feinde. Dieser Zeitgeist übertrug sich auf die Bakteriologie.
Noch ein weiterer Aspekt, sich so auf die “bösen Viren” (und ihre Überträgerinnen) zu konzentrieren:
Jedes Leben ist aus einer Berührung, mit einer Begegnung und Partnerschaft entstanden und von Beginn an sind wir dabei in Kontakt mit den Mikroben. Wir dürfen die Fixierung auf einen Täter, der mich umbringen möchte, zugunsten einer Freude in Partnerschaft mit dem Lebendigen loslassen. Mit der Täterfixierung richtet man die Aufmerksamkeit ja auch wieder auf ein Tun statt auf ein Sein. Es ist wichtig zu erkennen, dass die Probleme, die wir uns geschaffen haben, aus Projektionen unserer eigenen Psyche heraus entstanden sind. Wie kommt es denn, dass wir einem Virus so bereitwillig die Täterrolle zuschreiben? Liegt es vielleicht daran, dass wir uns selbst in einer Opferrolle fühlen? Ein Opfer hat das Bedürfnis, gesehen zu werden und Heilung zu erfahren. Welcher Heilung bedürfen wir – individuell wie kollektiv –, um die Opfer-Täter-Spirale verlassen zu können und uns liebevoll als Schöpfer in einer Welt zu erkennen, die für alle lebenswert ist?
Und ich erinnere noch mal an das, was Charles Eisenstein in seinem Essay Die Krönung schreibt:
Bevor wir das Abstandhalten zu einer neuen Norm machen, nach der sich die Gesellschaft orientiert, lasst uns bedenken, was für eine Entscheidung wir hier treffen und warum. […]
COVID-19 wird irgendwann abebben, aber die Bedrohung durch ansteckende Krankheiten wird bleiben. Unsere Antwort wird den Kurs für die Zukunft bestimmen. Das öffentliche Leben, das gemeinschaftliche Leben und das Leben gemeinsamer Körperlichkeit ist schon seit einigen Generationen im Schwinden begriffen. Statt in Geschäften einzukaufen, lassen wir uns Sachen nach Hause liefern. Statt Rudeln von Kindern, die draußen spielen, haben wir Play Dates und digitale Abenteuer. Statt des öffentlichen Platzes haben wir ein Online-Forum. Wollen wir fortfahren uns noch weiter voneinander und von der Welt zu isolieren? […]
Wollen wir uns, um das Risiko einer weiteren Pandemie zu senken, dafür entscheiden, für immer in einer Gesellschaft ohne Umarmung und Händeschütteln zu leben? Wollen wir uns dafür entscheiden, in einer Gesellschaft zu leben, in der wir uns nicht mehr in größerer Zahl versammeln? Soll das Konzert, das Sportereignis und das Festival der Vergangenheit angehören? Sollen Kinder nicht mehr mit anderen Kindern spielen? Soll aller menschlicher Kontakt durch Computer und Gesichtsmasken vermittelt werden? Kein Tanzunterricht, kein Fußballtraining, keine Konferenzen und keine Kirchenbesuche mehr? Soll die Reduzierung der Todesfälle der Maßstab sein, an dem der Fortschritt gemessen wird? Heißt menschliche Fortentwicklung Getrenntheit? Ist das die Zukunft?
Wir haben die Wahl:
Es gibt eine Alternative zur perfekten Kontrolle, die unsere Zivilisation so lange angestrebt hat, und die sich mit jedem Fortschritt wieder ein Stück weit entzieht, wie eine Fata Morgana am Horizont. Ja, wir können den bisherigen Weg in Richtung zunehmender Vereinsamung, stärkerer Abschottung, mehr Herrschaft und größerer Getrenntheit fortsetzen. Wir können zulassen, dass mehr Getrenntheit und Kontrolle normal werden, im Glauben sie seien nötig um uns Sicherheit zu gewähren, und eine Welt akzeptieren, in der wir uns davor fürchten, einander nah zu kommen. Oder wir können diese Pause, diese Unterbrechung der Normalität zum Anlass nehmen, einen Weg in Richtung Wiedervereinigung, Ganzheitlichkeit, Wiederherstellung von verlorenen Beziehungen und Gemeinschaft und unserer Wiedereingliederung in das Netz des Lebens einzuschlagen.
Zum Schluss verlinke ich noch Saranams Blogbeitrag Eine berührbare Gesellschaft, denn uns als Tantrikerinnen liegt das natürlich ganz besonders am Herzen.
Es steht nichts Geringeres als unsere Menschlichkeit auf dem Spiel. Die Transhumanisten können es kaum erwarten, diese abzuschaffen. Machen wir ihnen das Spiel nicht zu leicht.
Nachtrag vom 01.09.: Wenn ich diesen Beitrag in Spektrum der Wissenschaft lese, gruselt es mich:
»Wir müssen unsere Kultur, wie wir mit anderen Menschen umgehen, ändern«
Tja, die Frage ist nur, ändern wir unsere Kultur in Richtung mehr Nähe oder in Richtung noch mehr Distanz?
Nachtrag vom 14.09.: Ich hatte ganz vergessen, meinen Beitrag Corona: Die Einhegung der Allmende auf Steroiden zu verlinken, wo ich schrieb
Die Corona-Krise beschleunigt diesen Prozess gerade massiv durch das von allen Seiten propagierte Social Distancing. Alle hocken nur noch vereinzelt in ihren Privatwohnungen, der öffentliche Raum ist faktisch nicht mehr existent. Im Internet stecken ja auch alle nur noch in ihren persönlichen Filterblasen.
Weiterer Nachtrag vom 14.09.: Die Corona-Proteste um die Commons-Perspektive ergänzen.
Nachtrag vom 18.11.: Sehr wichtiger Vortrag von Daniele Ganser über die verschiedenen Arten von Corona-Angst; bei mir überwiegt bisher die Diktatur-Angst. Besser ist es in jedem Fall, sich nicht von Angst welcher Art auch immer leiten zu lassen.
Nachtrag vom 14.01.2021: Nach langer Pause lese ich gerade in Miki Kashtans Artikelreihe Apart and Together weiter. Im Teil Reengaging with the Full Range of Our Emotions schreibt sie
This, then, is how we came into the pandemic: isolated, stressed, and powerless. Already in epidemic levels of anxiety, depression, and suicide. Many more of us than ever before living alone, separate from others, passively watching events and stories happening elsewhere. Then, in much of the world, the response to the Coronavirus has only intensified both the stressors and the isolation. As with so much else I have explored, this makes more visible and stark the conditions that have already been unsustainable for human life. We are social creatures, requiring touch and communion to thrive. In most of our time on this planet, we lived in small bands, moving around together. Even after settling down, we still mostly lived in small communities where we knew everyone, and where we leaned on each other for material, emotional, and spiritual needs. We are made weaker, less able to meet the challenges of life, and less capable of wisdom, when we are separated from each other.
Nachtrag vom 02.02.2021: Michael Wengraf bringt es im Telepolis-Interview auf den Punkt:
[Das neoliberale Programm] beginnt im Wien der Zwischenkriegszeit mit den ideologischen Stammvätern des Neoliberalismus Ludwig Mises und Friedrich Hayek. Sie entwarfen eine Strategie, wie Marktliberalismus, Deregulierung, Sozialabbau und Austerität nicht nur in die Praxis umgesetzt werden, sondern auch die Köpfe der Menschen bestimmen. Das wurde später kontinuierlich weiterentwickelt. Und hier sind wir beim “Masterplan”.
Inwiefern nützt Corona dieser Art Politikumstellung?
Auf vielfache Weise. Zum Beispiel, indem Kommunikation und Kollektivität verhindert werden. Orte der Zusammenkunft gibt es kaum mehr, kleine Gaststätten, Kaffeehäuser und Bars sind - und bleiben wahrscheinlich! - geschlossen. Homeoffice und Homeschooling atomisieren die Menschen und verhindern gemeinsamen Widerstand. Außerdem werden im Zuge der Covid 19-Maßnahmen Klein- und Familienbetriebe im Interesse der großen, globalen Akteure beseitigt. Lockdowns überleben die meisten von ihnen ja nicht. Hier wird also ein der “Rechten Revolution” eingeschriebener Vernichtungskrieg vollendet.
Weiter unten:
Der autoritäre Neoliberalismus ist eine neue Form des Totalitarismus, die weitgehend unsichtbar bleibt.
Sie ist vor allem gekennzeichnet durch Demobilisierung, Herbeiführen von Unsicherheit, Angst und Apathie. Staat und Gesellschaft sind der Wirtschaft, will heißen dem Profitinteresse, strikt untergeordnet. Darüber hinaus gibt es offene und stille Gewalt gegen Dissidenten wie Edward Snowden oder Julian Assange sowie eine verdeckte, aber vollkommene Einschränkung des Meinungsspektrums.
Entscheidungen werden meist jenseits aller Kontrollen getroffen, und dies angesichts einer grundsätzlich apathischen Bevölkerung. Dieser umgekehrte Totalitarismus, übt, so der Politikwissenschaftler Sheldon S. Wolin, eine totalitäre Gewalt aus, ohne Konzentrationslager zu errichten, ideologische Einheitlichkeit zu erzwingen oder die Dissidenten gewaltsam zu unterdrücken. Zumindest solange sie unwirksam bleiben. Das ist allen offen autoritären Bestrebungen überlegen.