Schlagwort: Integral
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Echte Anarchisten essen kaum Getreide
Wieder mal so eine seltsame Überschrift. Was hat das eine mit dem anderen zu tun, fragt ihr euch jetzt vielleicht. Nun, eine ganze Menge – und darüber kann meines Wissens keiner besser Auskunft geben als James C. Scott.
Der macht gerade in Oya-Kreisen die Runde, im Beitrag Zukunft säen, Lebendigkeit ernten aus Ausgabe 50 wurde ich so richtig auf ihn aufmerksam. Dieser Ausschnitt aus dem Artikel fasst gut zusammen, worum es geht – und erklärt den Zusammenhang von Getreide und Anarchismus:
Der Autor fragt darin, warum die frühen Kulturen um 3000 vor unserer Zeitrechnung, die im Mittelmeerraum die ersten großen Städte errichtet haben, ausgerechnet Getreide zum Grundnahrungsmittel erkoren hatten. Getreide beansprucht den Boden stark, ist krankheitsanfällig und macht im Anbau wie in der Verarbeitung viel Mühe. Obendrein sind Getreidebrei oder Brot weder sonderlich gesund noch verträglich. Getreide war aber wie geschaffen für Steuereintreiber, zeigt James Scott. Da es, anders als zum Beispiel die ebenfalls dauerhaft lagerbaren Hülsenfrüchte, nur einmal im Jahr geerntet wird, konnten sich die Mächtigen ein genaues Bild über den Jahresertrag verschaffen und ihren Anteil fordern. Sie brauchten es als Lohn für die Bauarbeiter, die in den frühen Städten wie Uruk Prunkbauten errichten mussten. Staaten, die auf Getreide basierten, entstanden dort, wo Menschen wegen ungünstiger klimatischer Entwicklungen Mangel litten und Feldbau mit Bewässerunggssystemen betrieben, analysiert Scott. Das erforderte einen hohen Organisationsaufwand und begünstigte damit das Entstehen von Machtstrukturen. Die Mächtigen diktierten schließlich, was auf den Feldern zu passieren hatte, und machten Bäuerinnen und Bauern zu Untertanen. Freiwillig hätten diese die Plackerei des Kornanbauens im großen Stil wohl nicht auf sich genommen. Aber, und das ist der springende Punkt, eine große Getreide-Stadt wie Uruk mit 50 000 Einwohnern entstand nicht zeitgleich mit der Erfindung gärtnerischer und landwirtschaftlicher Techniken, sondern erst 4000 Jahre später. In diesem enormen Zeitraum – doppelt so lange wie die Epoche seit dem Beginn unserer Zeitrechnung – hatte Getreide nur eine untergeordnete Rolle gespielt. Meist wurden aus Körnerbrei vor allem berauschende Getränke hergestellt! Dass die Menschheit lernte, Pflanzen zu kultivieren, hatte nicht zur Folge, dass von einem Tag auf den anderen Siedlungen zwischen Getreidefeldern entstanden. Über Jahrtausende hinweg kombinierten die Menschen gelegentliches Jagen und Sammeln mit Viehzucht und dem Anlegen von Gärten, in denen hier und dort auch mal ein Streifen Einkorn oder Emmer wuchs, erklärt James Scott. Sie seien weitgehend gesund, satt und selbstbestimmt gewesen – eine Inspiration für enkeltaugliche Lebensweisen?
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Es gibt keinen Naturzustand
Dieser Andreas Weber schreibt echt immer genialere Sachen. In der aktuellen Oya führt er unter der Überschrift Essbar sein aus, warum der Glaube an ein “Paradies”, an einen “unberührten Naturzustand” der frühen Menschheit, eine Illusion ist. Damit nähert er sich sehr Ken Wilber in dessen Buch Halbzeit der Evolution an, das hier ja schon mehrfach Thema war.
Ein paar Ausschnitte:
Wo der Mensch auftauchte, veränderte er die Natur radikal. Vieles spricht dafür, dass die ersten Bewohnerinnen und Bewohner Nordamerikas die ursprüngliche Megafauna, elefantenähnliche Mastodonten und gewaltige Faultiere, haben verschwinden lassen. Damit wären auch sie, die oft als Beispiele für die Möglichkeit perfekter Harmonie mit der Natur herhalten müssen, Nachfahren eines ersten Akts ökologischer Dominanz. Die ökologisch folgenreichste Technik, die oft nicht in Betracht gezogen wird, war das Feuer. Schon der Homo erectus kochte vor sechshunderttausend Jahren seine Nahrung. Vor allem aber legte er Ökosysteme in Asche. Er brannte Wälder ab, um auf der offenen Steppe besser jagen zu können – und vielleicht auch, um auf den nährstoffreichen Holzkohleresten erste Gärten zu kultivieren. Der Mensch der Vorzeit schuf somit bereits »neuartige Ökosysteme«, wie Forscher heute unerhörte Artmischungen wie den Berliner Schanzenwald nennen. […] Unberührte Natur – das ist ein Mythos, der nie gestimmt hat, so wenig wie der vom Paradies. Die Erde zu verändern, meint [Geograf Erle] Ellis, sei nichts Neues, sondern arttypisch: Homo sapiens ist jene Spezies, die den Planeten umbaut. Er ist ein Ökosystem-Ingenieur, ähnlich wie der Biber, auf dessen Konto ganze Feuchtgebiete gehen können, mit der entsprechenden Artenvielfalt. »Diese Welt ist nicht perfekt«, meint Ellis, »Aussterben gehört dazu«. Seit es den Menschen gebe, provoziere er ökologische Revolutionen.
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Selbsteigentum als evolutionäre Errungenschaft
Das Beispiel Selbsteigentum verdeutlicht wohl noch besser als das Patriarchat, wie Ken Wilbers Buch Halbzeit der Evolution meine Sichtweise auf verschiedene Themen verändert hat. In meiner Auseinandersetzung mit den Voluntaristen hatte ich im Beitrag Eigentum als Instrument von “Teile und herrsche” noch von
einer esoterischen Angelegenheit namens “Selbsteigentum”
geschrieben, mit Verweis auf Hans-Herrmann Hoppes Buch Eigentum, Anarchie und Staat. Vielleicht lese ich das im Anschluss an Wilber doch mal.
Was hat nun meinen Sinneswandel ausgelöst? Nun, ich staunte nicht schlecht, als ich bei Wilber im 15. Kapitel las:
So wie gewaltfreie Anerkennung und Schutz von Eigentum nur vom Gesetz garantiert wurde, so wurden schwerwiegende Verletzungen der Personalität durch gesellschaftliche Konvention verboten. Eigentum an Gütern war nicht mehr nur den stärksten oder aggressivsten Menschen vorbehalten, sondern jede Rechtsperson hatte legales Recht auf Besitz, den sie durch eigenen physischen Austausch (oder sekundär durch Handel) erworben hatte. Sollte das Gesetz nicht verletzt werden, mussten die Individuen sich gegenseitig durch Austausch gegenseitiger Achtung anerkennen. Eine Person besaß Eigentum, und die Achtung vor diesem Eigentum erforderte die Anerkennung und Achtung der Personalität. Vor der ichhaften Periode gab es kaum so etwas wie Personen uund legalisiertes Eigentum.
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Sinn und Unsinn des Patriarchats oder: Wie ich mal wieder das Kind mit dem Bade auskippte
Der heutige integrale Salon zum Thema Integrales Christentum mit Christian Schmill bringt mich nun nach Mitternacht noch zum Bloggen. Dabei ist das Christentum nur der Aufhänger, der mich in einen integralen Flow gebracht hat; ich löse einen Teil meines Versprechens von Das Atman-Projekt und Halbzeit der Evolution ein, nämlich ausführlicher über selbiges zu schreiben.
Das ist einer der Hauptgründe, warum ich die integrale Theorie mag: sie weist mich immer wieder darauf hin, wo ich das Kind mit dem Bade ausgekippt habe und lädt mich ein, genauer hinzuschauen, was davon vielleicht doch bewahrenswert ist. Offensichtlich hatte ich es hier im Blog noch gar nicht erwähnt, im Herbst 2017 habe ich einen Satz gesagt, der mich damals selbst erstaunte: “Ich werde konservativ.” Das meinte und meine ich ganz im Sinne des Wortes konservativ, nämlich wie Wikipedia schreibt von lateinisch conservare „erhalten“, „bewahren“ oder auch „etwas in seinem Zusammenhang erhalten“.
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Das Atman-Projekt und Halbzeit der Evolution
Im Zuge meiner Beschäftigung mit der Integralen Theorie habe ich inzwischen schon einige Bücher von Ken Wilber gelesen, aber noch keins davon hat mich nur annähernd so gefesselt wie Halbzeit der Evolution. Das hatte ich mir bestellt, weil ich gerade mit diesem Aspekt der wilberschen integralen Theorie noch etwas gehadert habe – der Idee, dass sich die kulturelle Evolution der Menschheit, wenn auch mit Schlenkern & Rückschlägen, doch im Wesentlichen aufwärts bewegt. Insofern knüpft dieser Beitrag auch an Wilber, Evolution und Eigentum an, wo ich schon schrieb, dass Wilber auch um die Schattenseiten der Evolution weiss.
In “Halbzeit der Evolution” stellt Wilber diese Entwicklung der Menschheit so schlüssig dar, wie ich das noch nirgendwo anders gelesen oder gehört habe. Hier kommt nun der erste Teil der Überschrift ins Spiel: Das Atman-Projekt. Dabei handelt es sich zum einen um den Titel des “Schwesterbuchs” von “Halbzeit der Evolution” – Wilber hat diese Bücher gezielt gleichzeitig veröffentlicht, weil sie einander ergänzen. “Das Atman-Projekt” beschreibt die individuelle Evolution eines Menschen, und das feiner in Phasen unterteilt, während “Halbzeit der Evolution” von der kulturellen Entwicklung der Menschheit insgesamt handelt.
Zum anderen meint das Atman-Projekt folgendes:
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Meme Wars im Linux Kernel
Den Begrifff “Meme Wars” hatte ich schon mal hier im Titel, im Beitrag Meme Wars am Beispiel Fefe vs. Feminismus. Dort habe ich auch aus meiner eigenen Erfahrung die Spiral Dynamics-Meme Purpur bis Grün beschrieben.
Jetzt gerade tobt ein Kulturkampf um einen neuen Code of Conduct für den Linux Kernel.
In einer Mail an einen Freund schickte ich den Link zur erklärenden Mail von Linus Torvalds unter der Überschrift “Linux wird grün”. Das scheint mir inzwischen etwas verkürzt, im Kern allerdings zuzutreffen.
Ich will gar nicht viel selber dazu schreiben, sondern vor allem verlinken, wobei Fefes Blog den Ausgangspunkt bildet.
Viele EntwicklerInnen, darunter auch Fefe, fürchten, dass nun Social Justice Warriors die Linux-Kernel-Entwicklung feindlich übernehmen und mittelfristig die Codequalität senken. Fefe zur Codequalität:
Ich finde es an der Stelle übrigens brandgefährlich, Leute zur Selbstverwirklichung Code beisteuern zu lassen. Wir reden hier vom Linux-Kernel, der ist in Telefonen drin, mit denen man im Notfall zuverlässig die Feuerwehr rufen können muss. Der ist in Steuerungen für Kraftwerke drin, und in selbstfahrenden Autos. Da hängen Menschenleben von ab. Nein, da darfst du nicht an die Wand pinkeln, weil das toll in deinem Lebenslauf aussehen würde. Man hätte euch auch nicht bei der Brücke in Genua mitfrickeln lassen, weil ihr ein marginalisiertes Einhorn seid, mit dem alle Mitleid haben. Habt mal ein bisschen Respekt vor Code! Wir kriegen es schon mit ausgewiesenen und erfahrenen Experten nicht zuverlässig hin, sauberen und sicheren Code zu schreiben! Das ist kein Kunstwerk, das ist ein Stück Infrastruktur, von dem wir hier reden!
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Wilber, Evolution und Eigentum
Vor kurzem habe ich das erste richtig dicke Buch von Ken Wilber angefangen, Das Wahre, Schöne, Gute. Bisher war ich immer noch skeptisch vor allem was das Evolutionäre in Wilbers Theorie angeht. Es schwang mir ein gewisser blinder Fortschrittsglaube darin mit, nach dem Motto “später wird alles besser”.
Heute bin ich nun tatsächlich ein Wilber-Fan geworden, angeregt durch das 2. Kapitel “Im Licht unserer Zeit – Integrale Anthropologie und die Evolution der Kulturen”. Da geht es genau um diesen Knackpunkt der (kulturellen) Evolution.
Er geht darin (wie offenbar auch schon umfassender in seinem Buch Halbzeit der Evolution, das ich noch nicht gelesen habe) auf die Frage ein
Wie kann man vor dem Hintergrund von Auschwitz von einer kulturellen Evolution sprechen?
Damit ist klar, um blinden Fortschrittsglauben kann es ihm nicht gehen. Er weiss um die Schattenseiten der Evolution. Woher kommen diese? Ganz einfach:
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Don Juan Matus, Martin Buber, Spiral Dynamics und die Megamaschine
Inzwischen bin ich beim achten Buch von Carlos Castaneda angekommen, “Die Kraft der Stille”. Darin findet sich eine beeindruckende Zusammenfassung der menschlichen Bewusstseinsentwicklung auf den Seiten 145-149:
Ich bremste plötzlich am Straßenrand. Und hier erkannte ich zum erstenmal in meinem Leben, daß eine Dualität in mir bestand. Es war, als gäbe es zwei getrennte Teile in mir. Der eine Teil war alt, sorglos und gleichgültig. Er war schwer und dunkel und hatte Verbindung mit allen anderen Dingen. Dieser Teil von mir war unbeschwert, weil er allen Dingen ebenbürtig war. Er erwartete nichts und freute sich an allem.
Der andere Teil war leicht, neu, locker, erregt. Er war nervös und schnell. Er machte sich Sorgen, weil er unsicher war. Er konnte sich an nichts erfreuen, weil er nicht mit den anderen Dingen verbunden war. Er war allein, oberflächlich und verletzlich. Mit diesem Teil von mir betrachtete ich die Welt. Und mit diesem Teil von mir schaute ich mich jetzt um:
Überall sah ich weites, urbares Land. Und dieser unsichere, lockere und sorgenvolle Teil meiner selbst war abwechselnd stolz auf den Arbeitsfleiß der Menschen und traurig über den Anblick dieser schönen alten Wüste von Sonora – jetzt überzogen von Ackerfurchen und ordentlich bestellten Feldern.
Der alte, dunkle, schwere Teil meiner selbst machte sich deswegen keine Sorgen. Die beiden Teile gerieten in einen Disput. Der lockere Teil forderte, der schwere Teil solle sich Sorgen machen. Und der schwere Teil forderte, der andere solle endlich seine Sorgen vergessen und sich freuen.
»Warum bist du stehengeblieben?« fragte Don Juan. Seine Stimme rief eine Reaktion in mir hervor. Aber ich könnte nicht sagen, daß ich es war, der reagierte. Der Klang seiner Stimme schien den lockeren Teil meiner selbst zu verfestigen. Und plötzlich war ich wieder ich selbst.
Ich erzählte Don Juan von dieser Dualität, die ich in mir erkannt hatte. Er erklärte mir diese Dualität als Folge verschiedener Positionen meines Montagepunkts. Und während er sprach, verlor ich meine Festigkeit wieder. Der lockere Teil wurde so locker, wie er es vorhin gewesen war, als meine Dualität mir zum erstenmal bewußt wurde – und wieder verstand ich genau, was Don Juan mir erklärte.
Wenn der Montagepunkt sich an den Platz ohne Erbarmen bewegt, so erklärte er, wird die Position der Vernunft und des gesunden Menschenverstands geschwächt. Als ich diese ältere, dunkle und stille Seite in mir entdeckte, so erklärte er mir, hätte ich eine Ahnung von den Vorläufern unserer heutigen Vernunft gespürt.
»Ich verstehe ganz genau, was du meinst«, sagte ich zu ihm. »Ich weiß so vieles, aber ich kann es nicht aussprechen. Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll.«
»Ich habe es dir schon früher einmal erklärt«, sagte er. »Was du jetzt als Dualität empfindest, ist die Ahnung einer anderen Position deines Montagepunkts. In dieser Position erspürst du die ältere Seite des Menschen. Und was diese ältere Seite weiß, bezeichnet man als stilles Wissen. Dieses Wissen kannst du vorläufig noch nicht aussprechen.«
»Weil du dafür sehr viel Energie brauchst«, antwortete er. »Und im Augenblick hast du diese Energie nicht zur Verfügung. Wir alle haben dieses stille Wissen«, fuhr er fort. »Es ist ein Wissen, das umfassende Kenntnis von allem hat. Aber es kann nicht denken. Und darum kann es nicht aussprechen, was es weiß.
Als der Mensch dieses Wissen erkannte und sich bewußt machen wollte, so glauben die Zauberer, da verlor er die Ahnung von alledem, was er wußte. Dieses stille Wissen, das du nicht aussprechen kannst, ist nichts anderes als die Absicht – der Geist, das Abstrakte. Der Mensch beging nur den Fehler, dies Wissen direkt erfahren zu wollen, wie er auch andere Dinge im Leben erfuhr. Je mehr er erfahren wollte, desto flüchtiger wurde das Wissen.«
»Doch was bedeutet all dies, Don Juan?« fragte ich. »Kannst du es nicht mit einfachen Worten sagen?«
»Es bedeutet, daß der Mensch auf das stille Wissen verzichtet hat, um die Vernunft zu gewinnen«, antwortete er. »Je stärker der Mensch sich an die Welt der Vernunft klammert, desto flüchtiger wird die Absicht.«
[…]
Und dann erzählte er mir von der Situation der Menschen in früheren Zeiten. Damals, sagte er, habe der Mensch unmittelbar gewußt, was er tun und wie er es tun sollte. Weil ihm alles glückte, entwickelte er ein Ich-Gefühl, das ihm die Illusion vorgaukelte, er könne seine Handlungen vorhersehen und planen. Auf diese Weise entstand die Idee eines individuellen Ich. Ein individuelles Ich, das dem Menschen sein Handeln vorzuschreiben begann.
Je stärker dieses individuelle Ich-Gefühl wurde, desto schwächer wurde die natürliche Verbindung des Menschen zum stillen Wissen. Der moderne Mensch – Endpunkt dieser Entwicklung – empfinde daher schmerzlich seine Trennung von allen Dingen dieser Welt. Seine Verzweiflung äußere sich in Gewalt und zynischer Selbstzerstörung.
Die Ursache für die Verzweiflung des modernen Menschen sah Don Juan in einem letzten, uns noch verbliebenen Rest stillen Wissens. Dieser gebe uns, erstens, eine Ahnung von unserer einstigen Verbindung zum Ursprung aller Dinge. Und zweitens lasse er uns begreifen, daß wir ohne diese Verbindung zum Ursprung niemals auf Glück und Frieden hoffen dürften.
Hier glaubte ich Don Juan auf einem Widerspruch ertappt zu haben. Früher einmal hatte er mir erklärt, der Krieg sei die naturgegebene Situation eines Kriegers; und Friede sei eine Anomalie.
»Das ist richtig«, sagte er. »Aber Krieg bedeutet für den Krieger nicht Beteiligung an Akten individueller Dummheit oder kollektiver Gewalt. Krieg ist für einen Krieger der Kampf gegen das individuelle Ich, das uns Menschen unserer einstigen Fähigkeiten beraubt hat.«
Don Juan schlug vor, wir sollten uns weiter über die Idee der Rücksichtslosigkeit unterhalten – jene erste Prämisse der Zauberei. Jede Bewegung des Montagepunkts, das hätten die Zauberer herausgefunden, bedeute nämlich eine Distanzierung von der übertriebenen Betrachtung des individuellen Ich, wie sie den modernen Menschen kennzeichne. Und die Zauberer glaubten, daß es eine bestimmte Position des Montagepunktes sei, die den Menschen zu einem so gefährlichen Egoisten mache – zu einem ausschließlich mit seinem Selbstbild befaßten Wesen. Weil der Mensch keine Hoffnung habe, jemals zum Ursprung der Dinge zurückzukehren, suche er Trost im eigenen Ich.
Damit aber fixierte er seinen Montagepunkt in jener Position, die sein Selbstbild verewige. Jede Bewegung des Montagepunkts, heraus aus seiner üblichen Position, bedeute zugleich eine Abkehr von der Selbstbetrachtung und Selbstüberschätzung des modernen Menschen.
Die Selbstüberschätzung, sagte Don Juan, habe ihre Ursache in der Selbstbetrachtung – jener Kraft, die den Montagepunkt in seiner gegenwärtigen Position fixiere. Darum sei es das Ziel der Krieger, die tyrannische Selbstüberschätzung von ihrem Thron zu stürzen. Ihr ganzes Tun gelte einzig diesem Anliegen.
Die Zauberer hätten nämlich herausgefunden, sagte Don Juan, daß Selbstüberschätzung nichts anderes sei als getarntes Selbstmitleid.
»Es ist unglaublich, aber wahr«, sagte er. »Das Selbstmitleid ist der größte Feind des Menschen, und die Quelle seines Elends. Ohne Selbstmitleid könnte der Mensch es sich gar nicht leisten, sich so sehr zu überschätzen, wie er es tut. Leider ist die Selbstüberschätzung eine Kraft, die ihren eigenen Gesetzen folgt. Und so kommt es, daß wir, wenn wir unser Elend beklagen und uns selbst bedauern, uns eigentlich selbst zu wichtig nehmen.«
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Mikroaggressionen und Rang
Mir war ja bisher noch gar nicht klar, wie krass das in den USA an den Hochschulen mit Mikroaggressionen abgeht. Zur Veranschaulichung vergleiche ich eine Mikroaggression mal mit einem Krankheitserreger (abgesehen davon, dass ich nichts von der Ansteckungstheorie halte, aber das ist eine andere Geschichte). Der Begriff “Mikroaggression” beschreibt winzige übergriffige Äußerungen in der alltäglichen Kommunikation. Damit dürften diese Äußerungen ähnlich häufig vorkommen wie eben Krankheitserreger.
Manche verbalen Äußerungen erfüllen hierzulande den Straftatbestand einer Volksverhetzung oder Beleididung. Darunter fallen solche Mikroaggressionen aber gerade nicht. In aller Regel beabsichtigen diejenigen, die sie äußern, gar keine Aggression (Wikipedia: “In den meisten Fällen nehmen die Verursacher von Mikroaggression sich selbst als wohlwollend und unvoreingenommen wahr.”). Um wieder beim Vergleich zu bleiben, auch einem Grippevirus unterstelle ich jetzt nicht, dass es absichtlich Menschen krank machen will. Es will sich einfach nur vermehren.
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Mein Kampf: Lernen als Zeichen von Schwäche
Direkt am Tag, als er in den Kinos anlief, habe ich mir den Film Er ist wieder da angesehen und bin im Anschluss ohne Umweg in den Buchladen gelaufen, wo ich mir dann auch das Buch gekauft habe. Das habe ich nun auch durch. Jetzt sind die Originalquellen dran, im Moment lese ich Mein Kampf. Dabei finde ich besonders signifikant, was schon im “Er ist wieder da”-Buch zitiert wurde:
In dieser Zeit bildete sich mir ein Weltbild und eine Weltanschauung, die zum granitenen Fundament meines derzeitigen Handelns wurden. Ich habe zu dem, was ich mir so einst schuf, nur weniges hinzulernen müssen, zu ändern brauchte ich nichts.
Dieser Führer der nationalsozialistischen Bewegung sagte damit von sich selbst, dass er aufgehört hatte, noch dazuzulernen. Was ich schon in der Schulzeit formuliert hatte – “Der 1. Hauptsatz aller Wissenschaft lautet: Es könnte auch anders sein” – ging diesem Hitler völlig ab. Er hatte sich felsenfest in seinem Standpunkt eingerichtet, so ist es und nicht anders. Das führt er später noch aus:
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