Evolution: sinnvoll oder unsinnig?
Beim Lesen von Thomas Metzingers Buch “Der Ego-Tunnel” fiel mir immer wieder auf, wie nachdrücklich er betont, dass die natürliche Evolution weder ein Ziel noch eine Richtung hat. Im 2. Kapitel schreibt er dazu:
Zunächst dürfen wir nicht vergessen, dass die Evolution von Zufallsereignissen angetrieben wird, dass sie keine Ziel verfolgt oder eine Richtung besitzt und dass sie das, was uns heute als eine kontinuierliche Optimierung von Nervensystemen erscheint, in einem blinden Vorgang von Variation des Erbguts und Selektion durch die Umwelt geleistet hat. Es ist falsch, anzunehmen, dass die Evolution Bewusstsein erfinden musste – im Prinzip hätte es auch ein nutzloses Nebenprodukt sein können. Zu keinem Zeitpunkt gab es so etwas wie eine Notwendigkeit.
Darin unterscheidet sich die naturwissenschaftliche Evolutionstheorie grundsätzlich von “spirituellen” Evolutionstheorien wie der von Ken Wilber, denn Wilber postuliert mindestens eine Richtung der Evolution, nämlich hin zu mehr Komplexität und mehr Bewusstheit. (An dieser Stelle wird es interessant, denn empirisch lässt sich diese Richtung doch tatsächlich beobachten, oder? Dieser Frage gehe ich hier jedoch nicht weiter nach.) Viele integrale Denker behaupten neben einer solchen Richtung der Evolution auch, dass diese ein Ziel, einen Endpunkt habe. Teilhard de Chardin nannte diesen den Punkt Omega.
Und natürlich unterstellen auch alle Religionen, dass das Ganze hier einen Sinn hat.
Halten wir dem noch mal Metzinger in Kapitel 7 entgegen:
Vielmehr gibt es – wenn wir der naturalistischen Weltsicht folgen – überhaupt keine Zwecke. Streng genommen gibt es noch nicht einmal Mittel – die Evolution ist einfach so geschehen. Natürlich sind in ihr so etwas wie subjektive Ziele und Zwecke entstanden und dann in unserem Bewusstsein erschienen, aber der Vorgang als Ganzer respektiert sie mit Sicherheit in keiner Weise. Die Evolution nimmt keine Rücksicht auf das Leiden der Einzelwesen.
Wilber beschreibt ja in “Halbzeit der Evolution” sehr deutlich den Schrecken, den die Bewusstwerdung der ersten Menschen mit sich brachte; er nennt ebendiese den “Sündenfall”. In Metzingers Worten erscheint auf einmal eine Welt, und dieses Erscheinen wirft natürlich die Frage auf, was hier eigentlich vor sich geht. Und dann stellt dieser sich selbst bewusst gewordene Mensch das erste Mal die unselige Frage “Warum?”
An dieser Stelle fiel mir John Lilly ein, der in seinem Buch Das Zentrum des Zyklons einen LSD-Trip beschreibt, in dem er u.a. folgendes erlebte:
Plötzlich stürzte ich in etwas, das ich später den “kosmischen Computer” nannte. Ich war lediglich ein kleines Programm im riesigen Computer von jemand anderem. Phantastische Energieströme gingen durch mich hindurch. Keiner davon ergab irgendeinen Sinn. Ich befand mich in totalem Entsetzen und Panik. Ich wurde programmiert von anderen, sinnlosen Programmen, die über mir und über den anderen standen. Ich wiederum programmierte kleinere Programme unter mir. Die Information, die hereinkam, war sinnlos. Ich war sinnlos. Dieser ganze Computer war das Ergebnis eines sinnlosen Tanzes bestimmter Arten von Automaten an einem bestimmten Platz im Universum, angereizt und getrieben von organisierten, aber sinnlosen Energien. Ich reiste durch den Computer als ein Programm, das durch andere Programme hindurchströmte. Ich ging bis an seine äußersten Grenzen. Überall fand ich Wesen wie mich selbst, die Sklaven-Programme waren in dieser riesigen Verschwörung, diesem kosmischen Tanz von Energie und Materie, der absolut keinen Sinn hatte, keine Liebe, keinen menschlichen Wert. Der Computer war vollkommen leidenschaftslos, objektiv und schreckenerregend.
Schon als ich das das erste Mal las, fragte ich mich, warum er das als so schreckenerregend erlebt hat. Mir scheint auch heute, dass zumindest damals selbst der gute Lilly einem religiösen Wahn unterlag, unbedingt Sinn und Liebe im Universum zu finden. Don Juan hätte zu ihm wahrscheinlich gesagt “John, du lässt dich mal wieder gehen!” ;-)
Als makelloser Krieger gilt es, der Möglichkeit ins Auge zu sehen, dass die Evolution tatsächlich nur ein Satz von Spielregeln für ein Spiel ist, das das Universum allein zu seiner Unterhaltung spielt. Und wir alle sind darin die Spielfiguren.
Aaaber jetzt kommt’s: Das hält uns alle nicht davon ab, uns jeweils individuell einen Sinn unseres Lebens zu konstruieren (Metzingers subjektive Ziele und Zwecke). Wir dürfen nur nicht den Fehler machen, einen Sinn außerhalb von uns als gegeben anzunehmen. Das wäre natürlich sehr bequem, da müssen wir nicht mehr selber denken & uns bemühen, weshalb sich Religionen schon seit Jahrtausenden so bewährt haben als Erklärungsmodelle. Übrigens fällt auch die religiöse Vorstellung von der unsichtbaren Hand des Marktes darunter. Auch der Marxismus mit seiner Behauptung “Alle Geschichte ist die Geschichte von Klassenkämpfen” liefert eine geschlossene Sicht auf die Welt mit einem eindeutigen Ziel – dem Kommunismus.
Dabei gilt für mich als inneren Anarchisten, was ich schon im Beitrag Der Freiheit ist alles gleich gültig schrieb:
Jede Bedeutung schränkt ein.
Don Juans Satz Ein Krieger ‘muss’ glauben kann als Motto beim Konstruieren des je eigenen Sinns dienen. Und selbst den muss ich nicht so stehen lassen: Ich kann das Glauben auch sein lassen und mich einfach am kosmischen Witz erfreuen.