Besorgter Bürger 2020
Die Corona-Krise verstärkt meine Besorgnis als Bürger noch mal. Der konkrete Auslöser für den diesjährigen “Besorgter Bürger"-Beitrag ist das Interview in der Republik mit dem französischen Ökonomen Gabriel Zucman unter der Überschrift «Wir sollten in Europa nicht warten, bis wir amerikanische Verhältnisse haben». Die amerikanischen Verhältnisse sehen so aus:
1980 bezog das oberste Prozent der Einkommensverteilung 10 Prozent des Gesamteinkommens. Heute sind es 20 Prozent. Umgekehrt hat die untere Hälfte der Einkommensverteilung – also 50 Prozent der Bevölkerung – zwischen 1980 und 2018 ihr durchschnittliches Einkommen überhaupt nicht steigern können und ist vom Wachstum vollständig ausgeschlossen worden. Das Wirtschaftssystem der USA lässt seit fast zwei Generationen einen Grossteil der Menschen im Regen stehen. Man muss sich nicht wundern über den Wunsch nach Veränderung.
Dabei sieht es in Europa nicht soo viel besser aus:
Auch auf dem alten Kontinent haben sich die Ungleichheiten verstärkt, wenn auch weniger ausgeprägt als in den USA. Anfang der Achtzigerjahre erzielte das oberste Prozent in Europa 10 Prozent des Gesamteinkommens – also exakt so viel wie in den USA –, inzwischen sind es zwar nicht 20, aber doch 12 Prozent. Das Problem der Steuerungerechtigkeit stellt sich im Übrigen in Europa eher noch dringlicher als in den USA, weil das durchschnittliche Niveau der Steuern und Abgaben hier höher liegt und es deshalb umso wichtiger ist, die Lasten fair zu verteilen. Auch in europäischen Ländern, zum Beispiel in Frankreich, bezahlen die Reichtumseliten de facto tiefere Steuersätze als die Mittelschicht.
Der große Trend der Globalisierung:
Letztlich beobachten wir jedoch in allen Ländern eine analoge, von der Globalisierung vorangetriebene Entwicklung: Die grossen Globalisierungsgewinner, also im Wesentlichen die multinationalen Konzerne und ihre Aktionäre, sind steuerlich entlastet worden. Rund um den Globus sind die Gewinnsteuern für Firmen gesunken und wurden die Einkommenssteuern weniger progressiv. In vielen Ländern wurde eine Flat Tax für Kapitalgewinne, Zinserträge und Dividenden eingeführt und die Vermögenssteuer abgeschafft. Gleichzeitig wurden überall die Sozialabgaben und die Mehrwertsteuern erhöht, welche die unteren und mittleren Einkommen überproportional belasten. Für die Bevölkerungsschichten, die von der Globalisierung nur wenig oder gar nicht profitieren – das Gewerbe, die Rentner, die unteren Lohnkategorien –, ist die Belastung gestiegen.
Er schlägt neben einer Vermögenssteuer vor, die Gewinnsteuern wieder deutlich zu erhöhen. Warum das das Gewünschte bewirken kann, erklärt er so:
Wenn die Gewinnsteuern zu tief sind, ist es nicht mehr möglich, die Einkommenssteuern für natürliche Personen progressiv auszugestalten.
Weshalb?
Wenn der Abstand zwischen relativ niedrigen Gewinnsteuern und relativ hohen Steuersätzen auf den oberen Einkommen zu gross wird, verwandeln sich Grossverdiener in Firmen, um ihre Einnahmen als Gewinne einer juristischen Person und nicht mehr als Einkommen einer natürlichen Person zu deklarieren.
Dazu kommt noch, dass höhere Gewinnsteuern meiner Abneigung gegenüber Kapitalgesellschaften sehr entgegen kommen würden.
Seine Meinung zum “Sparen” teile ich allerdings nicht, sondern halte das nach wie vor für ein Verbrechen gegenüber der Gesellschaft. Wie ich in meinem Beitrag über Altersvorsorge schrieb:
“Sparen” heißt ja Konsumverzicht. Will sagen, wer Geld spart, verzichtet darauf, Schulden zu tilgen. Das zwingt dann wiederum die Schuldner entweder zum Aufschulden oder treibt sie in den Bankrott.
Dieses Fazit von Zucman teile ich wieder:
Globalisierung kann nur unter der Bedingung nachhaltig sein, dass diejenigen, die von ihr am meisten profitieren, auch am meisten Steuern bezahlen. Ein vernünftiges Steuersystem beruht auf einem simplen Grundsatz: Die Starken bezahlen am meisten.
Bestechend finde ich seine Idee, wie sich höhere Gewinnsteuern tatsächlich weltweit durchsetzen ließen:
Die Steuern sollten proportional zu den Einnahmen sein, die ein Unternehmen in dem Steuerland letzter Instanz realisiert hat. Wenn also Google zum Beispiel 10 Prozent seiner weltweiten Einnahmen in Deutschland erzielt, müsste die deutsche Regierung veranlassen, dass die Gewinnsteuer, die Google zu einem Satz von 25 Prozent auf den Bermudas zu zahlen hätte, berechnet wird, und dann könnte sie 10 Prozent von dieser Summe eintreiben. Falls Google nicht bezahlen wollte, würde dem Konzern die Geschäftstätigkeit in Deutschland untersagt. Überall dort, wo Google seine Gewinne schon zu 25 Prozent versteuert, würden die Steuerbehörden letzter Instanz nicht aktiv werden. Aber wenn ein Fiskaldefizit entstünde, müssten sie dieses ausgleichen. Mit diesem relativ einfachen Mechanismus könnte man die globale Wirtschaftsordnung fundamental verändern.
Das hätte umfassende Folgen:
Die Standortkonkurrenz ginge weiter, aber nicht mehr in der heutigen Form, in der sie nur ein paar Steuerparadiesen und den Aktionären multinationaler Konzerne einen Nutzen bringt. Die Länder würden weiterhin darum konkurrieren, möglichst viele Firmen anzuziehen, aber sie müssten sich einen Vorteil verschaffen durch Investitionen in die Infrastruktur, die Hochschulen, das Berufsbildungssystem, den Erhalt der Umwelt. Weiterhin wäre es entscheidend, die zur Verfügung stehenden Mittel möglichst effizient einzusetzen. Aber eine auf positiven Leistungen beruhende Standortkonkurrenz käme der Gesamtbevölkerung zugute. Das Gesicht der Globalisierung würde sich radikal verändern.
Bleibt natürlich die Frage, wie sich die USA als eine der größten weltweiten Steueroasen dazu verhalten. Davon abgesehen könnten die Globalisierungsverlierer aber einfach schon mal loslegen:
Hier liegt der Vorteil unseres Reformvorschlages: Nichts könnte die Verlierer der heutigen Situation daran hindern, das Fiskaldefizit der Grosskonzerne auf unilateraler Basis einzusammeln. Es braucht dafür keine neuen, internationalen Abkommen, die von den Steuerparadiesen bekämpft und blockiert werden könnten. Deutschland zum Beispiel könnte problemlos beschliessen, schon ab dem nächsten Jahr das Fiskaldefizit aller Konzerne, die auf seinem Territorium aktiv sind, einzuziehen. Weil die Unternehmen seit kurzem gezwungen sind, ihre Umsätze pro Land zu deklarieren, liegen schon heute alle Informationen vor, die es bräuchte, um dieses System umzusetzen.
Ihr erinnert euch:
Falls Google nicht bezahlen wollte, würde dem Konzern die Geschäftstätigkeit in Deutschland untersagt.
Wenn sich nun sogar die gesamte EU darauf einigen würde (nachdem sie die Niederlande, Luxemburg, Irland und Malta gefesselt & geknebelt haben), hätte das eine erhebliche Durchschlagkraft. Und wer weiss ob nicht China da auch Interesse dran hätte.
Das ganze Business der Steueroptimierung ging übrigens erst mit dem Neoliberalismus von Thatcher & Reagan so richtig los:
Die Steuerberatung war stark reguliert, und es wäre tabu gewesen, «Steueroptimierung» als kommerzielles Produkt anzubieten. Das hat sich erst in den Achtzigerjahren richtig geändert, als Begleiterscheinung der ideologischen Veränderungen und des gesellschaftlichen Wandels. Es arbeiten ohne Zweifel viele brillante Köpfe im Geschäft der internationalen Steueroptimierung, aber es ist eine Industrie ohne den geringsten sozialen Nutzen. Der einzige Effekt besteht darin, dass für bestimmte Bürger die Steuerrechnung sinkt – und sie deshalb für alle anderen steigt. Es ist ein Nullsummenspiel, das keinerlei Mehrwert erzeugt. Im Gegenteil.
Noch mal zu den Gründen, besorgt zu sein:
Noch Mitte der Achtzigerjahre lag der durchschnittliche Gewinnsteuersatz in den westlichen Industrieländern bei 49 Prozent. Heute liegt er bei 23 Prozent. In nicht einmal 40 Jahren hat er sich mehr als halbiert! Entweder machen wir so weiter, dann wird er in absehbarer Zeit nahe bei null liegen, und die globalen Reichtumseliten werden in einem ganz eigenen, weitgehend steuerbefreiten Universum leben. Oder wir drehen die Dynamik um. Es gibt nicht nur exzellente Argumente für eine neue Steuerpolitik, es wird auch immer deutlicher, dass sie politische Zugkraft entwickelt. Die Bürger sind immer weniger erfreut über hochprofitable Weltkonzerne, die keine Steuern zahlen.
Zum Ende geht er noch mal auf die Vermögenssteuer ein:
Wenn man sich die Milliardenvermögen rund um den Globus ansieht, kann man feststellen, dass sie seit mehreren Jahrzehnten im Durchschnitt um 7 bis 8 Prozent pro Jahr wachsen – viermal schneller, als die Vermögen im Durchschnitt wachsen. Wenn man die Milliardenvermögen also mit einem Steuersatz von 3 bis 4 Prozent pro Jahr belegt, greift man nicht die Substanz an. Man halbiert lediglich die Wachstumsrate. Das erscheint mir durchaus zumutbar, besonders wenn man bedenkt, was geschieht, wenn der Status quo erhalten bleibt.
Angefangen hatte mein Beitrag mit den Einkommensunterschieden, die sind gegenüber den Vermögensunterschieden aber zu vernachlässigen, was ich ja auch schon seit Jahren sage:
Und wir sollten nicht vergessen: Vermögenskonzentration zieht Machtkonzentration nach sich. Wer über Milliarden verfügt, kann nicht nur gewaltigen Einfluss auf das politische System ausüben, sondern auch den öffentlichen Diskurs prägen, Thinktanks finanzieren, Stiftungen gründen, Medien kaufen. Gegen alle diese bedrohlichen Entwicklungen kann man nur mit einer Vermögenssteuer und nicht mit Einkommenssteuern vorgehen.
Oder aber natürlich mit einem grundlegend anderem Geldsystem.
Und ja, ich habe nicht vergessen dass ich eigentlich überhaupt nichts von Steuern halte. ;-)
Das Buch hab ich mir dennoch direkt mal bestellt.
Nachtrag vom 11.05.: Auf dieser Website kann man durch Scrollen einen Eindruck von der Vermögensverteilung in den USA bekommen, am Beispiel von Jeff Bezos (der schon prominent im Besorger Bürger-Beitrag von letztem Jahr vorkam) und den 400 reichsten US-Amerikanern. Die Scroll-Seite gibt es inzwischen auch auf Deutsch.
Nachtrag vom 17.05.: Oskar Lafontaine meldet sich in den NachDenkSeiten zu Wort:
Dass Geld die Welt regiert, wussten schon unsere Vorfahren. Und wenn 26 Milliardäre so viel besitzen wie die Hälfte der Weltbevölkerung, dann ist doch der Beweis erbracht, dass unser Wirtschaftssystem pervers ist. Zudem führt es systembedingt zu Krieg und Umweltzerstörung. Das kann man nicht an Bill Gates (geschätztes Vermögen 98 Milliarden Dollar) und seiner Frau Melinda festmachen. Schon Dwight D. Eisenhower (US-Präsident von 1953 bis 1961) warnte vor dem „übertriebenen Einfluss des militärisch-industriellen Komplexes. Es besteht die Gefahr, dass unkontrollierte Macht desaströse Folgen haben könnte. Wir dürfen nicht zulassen, dass dieser Komplex unsere Freiheit und Demokratie bedroht.“
Nachtrag vom 31.08.: Cory Doctorow schreibt in einem seeehr langen Artikel über die Konzentration in der Tech- und allen anderen Industrien in den letzten 40 Jahren – How to Destroy Surveillance Capitalism:
The past 40 years of rising inequality and industry concentration, together with increasingly weak accountability and transparency for expert agencies, has created an increasingly urgent sense of impending doom, the sense that there are vast conspiracies afoot that operate with tacit official approval despite the likelihood they are working to better themselves by ruining the rest of us.
Nachtrag vom 25.01.2021: Überblick über alle bisherigen “Besorgter Bürger”-Beiträge hier im Blog: