Besorgter Bürger 2021

Durch dieses sehenswerte Interview mit Noam Chomsky wurde ich auf eine Studie der RAND Corporation aufmerksam, die belegt, dass zwischen 1975 und 2018 in den USA nahezu 50 Billionen Dollar (!!) von den unteren 90% Einkommen zu den obersten 1% Einkommen umverteilt wurden.

Corona hat diesen Trend noch verstärkt, wie ein aktueller Bericht von Oxfam belegt. Die Tagesschau fasst zusammen:

Erstmals seit über einem Jahrhundert droht die Kluft zwischen Arm und Reich in fast allen Ländern der Welt gleichzeitig anzusteigen und das ist eine Folge der Corona-Pandemie.

Zur Situation in Deutschland gibt der Sprecher von Oxfam Deutschland folgendes Beispiel:

Für das Jahresgehalt eines DAX-Vorstandes – das sind durchschnittlich etwa 5,6 Millionen – müsste eine Pflegekraft in Deutschland über 156 Jahre arbeiten.

Und das sind nur die Einkommen. Bekanntlich sagt die Vermögensungleichheit wesentlich mehr über die Kluft zwischen Arm & Reich aus als die Einkommen, denn wer von Vermögenserträgen leben kann, befindet sich in einer völlig anderen Situation und Klasse als jemand mit einem noch so hohen Arbeitseinkommen ohne entsprechendes Vermögen.

Oxfam zeigt das auch im aktuellen Bericht:

Während alle über Krise reden, haben die Milliardäre dieser Welt wirtschaftliche Verluste bereits wieder wettgemacht. Die 10 reichsten von ihnen haben sogar trotz der Krise profitiert und satte Gewinne eingestrichen: Insgesamt sagenhafte 1,12 Billionen US-Dollar beträgt ihr Vermögen jetzt. Ein Anstieg um fast eine halbe Billion seit 2019.

Anstatt jetzt noch bergeweise Quellen zur aktuellen Situation zusammenzutragen, versammle ich statt dessen alle bisherigen “Besorgter Bürger”-Beiträge der letzten Jahre für einen Rückblick:

  1. Besorgte Bürger (2015)
  2. Im Jahr 2017 bin ich erst recht besorgter Bürger
  3. Besorgter Bürger die Dritte
  4. Besorgter Bürger 2019
  5. Besorgter Bürger 2020
  6. Besorgter Bürger 2021
  7. Besorgter Bürger 2022

Doch noch ein Nachtrag: Die RAND-Studie unterscheidet die Einkommensentwicklung zwischen den Jahren 1947-1974 und seit 1975 (Zitat aus dem TIME-Artikel):

As Price and Edwards explain, from 1947 through 1974, real incomes grew close to the rate of per capita economic growth across all income levels. That means that for three decades, those at the bottom and middle of the distribution saw their incomes grow at about the same rate as those at the top. This was the era in which America built the world’s largest and most prosperous middle class, an era in which inequality between income groups steadily shrank (even as shocking inequalities between the sexes and races largely remained). But around 1975, this extraordinary era of broadly shared prosperity came to an end. Since then, the wealthiest Americans, particularly those in the top 1 percent and 0.1 percent, have managed to capture an ever-larger share of our nation’s economic growth—in fact, almost all of it—their real incomes skyrocketing as the vast majority of Americans saw little if any gains.

Dafür gibt es mindestens zwei unterschiedliche Erklärungsansätze. Der eine ist (wirtschafts-) politischer Natur und verweist auf den Neoliberalismus, der von Präsident Reagan forciert wurde. Das konnte dieser allerdings erst seit Beginn seiner Amtszeit 1981 tun, es bleibt also eine Erklärungslücke von 6 Jahren. Reagans Vorgänger Jimmy Carter betrieb keine neoliberale Politik. Allerdings hat vermutlich die Ölkrise 1973 die Ärmeren stärker getroffen als die Reichen.

Eine alternative Erklärung ist schlichte Mathematik: Arbeitseinkommen wachsen mit der Realwirtschaft lediglich linear, während Vermögen (und Schulden) durch den Zinseszinseffekt exponentiell zunehmen. Nun zeichnet sich exponentielles Wachstum (die grüne Kurve unten) dadurch aus, dass es in der Anfangsphase langsamer als lineares Wachstum (die rote Kurve unten) verläuft. Erst an einem bestimmten Punkt beginnt das exponentielle Wachstum stärker zu wachsen als lineares Wachstum, und von da an geht’s dann ab gen Himmel. Kurven mit exponentiellem, linearem und kubischem Wachstum

(Quelle: Wikipedia)

Was den Zinseszins angeht, verweise ich noch mal auf meinen Beitrag Der Zins ist nicht das Problem, sondern seine Garantie.

Uff, und diesen Abschnitt aus dem TIME-Artikel zitiere ich auch noch:

This is the America that stumbled into the COVID-19 pandemic and the economic catastrophe it unleashed: An America with an economy $2 trillion smaller and a workforce $2.5 trillion a year poorer than they otherwise would be had inequality held constant since 1975. This is an America in which 47 percent of renters are cost burdened, in which 40 percent of households can’t cover a $400 emergency expense, in which half of Americans over age 55 have no retirement savings at all. This is an America in which 28 million have no health insurance, and in which 44 million underinsured Americans can’t afford the deductibles or copays to use the insurance they have.

Nachtrag vom 03.02.: DIW-Studie: Erbschaftswelle verschärft Ungleichheit

Vor allem Vermögende erhalten nicht nur am häufigsten Erbschaften und größere Schenkungen, sondern erben auch absolut betrachtet das meiste Geld. Fast die Hälfte geht an die obersten zehn Prozent der Begünstigten, wie eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) ergeben hat.

Die anderen 90 Prozent teilen sich demnach die verbleibende Hälfte.

Was bei der Tagesschau fehlt, ist der Link zur Studie selbst.

Und noch ein weiterer Nachtrag vom 03.02. ist das Interview mit Chuck Collins, der im Alter von 26 Jahren sein Erbe in Höhe einer halben Million Dollar gespendet hat. Inzwischen leitet er das Inequality-Programm am Institute for Policy Studies in Washington, DC. Dieses betreibt auch die Website Inequality.org.

Nachtrag vom 17.02.: Oxfam-Bericht: Auch in Deutschland profitieren die Reichsten von der Pandemie.

Auch hier hat sich die Zahl der Milliardäre trotz Corona-Pandemie erhöht – von 114 im Februar 2019 auf 116 Ende 2020. Sie verfügen zusammen über ein Vermögen von fast 607 Milliarden Dollar. Die zehn reichsten Deutschen konnten ihr Vermögen im Verlauf der Pandemie um rund 35 Prozent steigern. Ihr Gesamtvermögen beläuft sich auf 242 Milliarden US-Dollar, 62,7 Milliarden mehr als im Februar 2019.

Und auf den unteren Stufen der Vermögens- und Einkommensleiter:

In Bezug auf Deutschland verweist Oxfam auf den WSI-Verteilungsbericht, laut dem 40 Prozent der Beschäftigten Einkommensverluste hinnehmen mussten. Menschen mit vorher schon niedrigen Einkommen und unsicheren Arbeitsplätzen waren und sind besonders stark betroffen.

Nachtrag vom 22.04.: Auch Mein Grundeinkommen nimmt sich des Themas an – Das gespaltene Land. Kostprobe:

Und die 45 reichsten Familien besitzen so viel wie die gesamte ärmere Hälfte der Bevölkerung.

Darauf bezieht sich auch Christoph Butterwegge im Interview der Bewegungsstiftung, der einen treffenden Vergleich zieht:

Die reichsten 45 Familien in Deutschland besitzen mehr als die ärmere Hälfte der Bevölkerung. Großunternehmer, die man in Russland als Oligarchen bezeichnen würde, nehmen natürlich auch bei uns politisch Einfluss, nur dass dies gern geleugnet wird. So hat die Stiftung Familienunternehmen etwa massiv auf die letzte Reform der Erbschaftsteuer eingewirkt, die nötig war, weil das Bundesverfassungsgericht eine “Überprivilegierung” der Firmenerben gerügt hatte. Die neue Regelung ist noch großzügiger als die alte.

Nachtrag vom 10.06.: Die #billionaireleaks von ProPublica gehören auf jeden Fall auch hier hin.

Nachtrag vom 25.09.: Diese Nachricht hatte ich auch schon im Beitrag Peak KapitalismusDie Mega-Yacht von Jeff Bezos kostete 500’000’000 Dollar.

Nachtrag vom 06.11.: Eine neue Oxfam-Studie ergibt Klima-Fußabdruck der Superreichen 30-mal höher als mit Pariser Abkommen verträglich. Den letzten Abschnitt der Pressemitteilung

Oxfam fordert, dass alle Länder ihre Klimaziel unter dem Pariser Abkommen sofort überarbeiten. Staats- und Regierungschefs müssen bis 2030 stärkere Emissionssenkungen anstreben, die ihrem fairen Anteil entsprechen. Sie müssen sicherstellen, dass die reichsten Menschen weltweit und innerhalb jedes Landes ihre Emissionen radikal senken. Die Reichsten können diesen Prozess drastisch beschleunigen, indem sie umweltfreundlicher leben, aber auch ihren politischen Einfluss und ihre Investitionen nutzen, um eine kohlenstoffarme Wirtschaft zu ermöglichen.

ergänze ich um den hilfreichen Hinweis: Am besten können die Reichsten ihre Emissionen radikal senken, indem sie ihren Reichtum verschenken und dadurch aufhören, die Reichsten zu sein.