Wann schränken wir endlich die Souveränität von Staaten und Konzernen ein?
Angesichts von Globalisierung und zunehmend mehr internationalen Institutionen wie dem Internationalen Strafgerichtshof, der Welthandelsorganisation und überhaupt der Vereinten Nationen hört und liest man – in erster Linie, aber nicht ausschließlich aus der rechten Ecke – die Befürchtung, dass das die Souveränität der Nationalstaaten untergrabe und damit eine Gefahr für unser aller Freiheit sei.
Die allerschlimmste Horrorvision für solche Leute ist eine Weltregierung (Stichwort NWO).
Nun erkenne ich sehr wohl an, dass der Westfälische Friede eine große historische Errungenschaft und ein echter Fortschritt war – damals, vor 372 Jahren.
Allerdings hat sich die menschliche Gesellschaft seither doch massiv verändert. Der Fortschritt von damals – eben die Grundlagen des souveränen Nationalstaats – stellt sich aus meiner Sicht heute als Fortschrittshemmnis dar. Damals hatten die Menschen noch nicht annähernd die Möglichkeiten wie heute, globalen Einfluss zu nehmen, und zwar nicht nur in politischem Sinne, sondern auch auf die natürlichen Gegebenheiten. Ich sage nur Klimakatastrophe. Abgase machen nicht an Landesgrenzen halt, und wenn der Amazonas-Urwald stirbt, dann merken das mittelfristig alle Lebewesen auf der Erde, nicht nur in Brasilien. Das gilt natürlich auch für Tschernobyl, Fukushima & Co.
Heute, im Jahr 2020, macht die hochgehaltene Souveränität der Nationalstaaten Steueroasen möglich, das regelmäßige Veto der USA (oder auch anderer Staaten) bei überlebenswichtigen globalen Entscheidungen, die Amazonas-Brandrodungen eines Bolsonaro usw. usf.
Die Herausforderungen der Menschheit sind heute global, deshalb brauchen wir globale Institutionen, die damit umgehen können. Was wir nicht mehr brauchen, ist ein einzelner Nationalstaat, der sich selbst zum Weltpolizisten aufspielt. Wir brauchen echte Weltpolizisten, die das Mandat der Weltgemeinschaft haben. Wir brauchen auf der gesamten Erde verbindlich geltende Regeln, wie wir miteinander und mit der Erde wirtschaften. Ja, vielleicht brauchen wir tatsächlich eine Weltregierung, die befugt ist, überall auf der Erde für alle Menschen geltende Regeln durchzusetzen.
Das sage ich als innerer Anarchist, und ich sage es unter dem Gesichtspunkt des als Menschheit erwachsen werdens.
Und im Prinzip finde ich eine Europäische Union einen sehr sinnvollen Zwischenschritt auf dem Weg dorthin. Allerdings ist die Umsetzung dieser Union bisher ein ganz schöner Murks. Das sollte uns aber nicht zu dem Kurzschluss verleiten, größere Einheiten als Staaten könnten nicht funktionieren. Mit Staaten haben wir schon Jahrtausende Erfahrungen gesammelt; globale Institutionen sind im Vergleich noch sehr jung, will sagen: wir haben da noch lange nicht alles ausprobiert.
Und, falls es euch nicht aufgefallen ist, natürlich will ich nicht allein die Souveränität von Staaten einschränken. Denn das würde erst Recht zum Szenario Shadowrun führen, wo Konzerne mit eigenen Armeen ihre eigenen Territorien verteidigen und Staaten kaum noch etwas zu melden haben. Dass schon heute die Konzerne so mächtig sind, liegt ja gerade daran, dass sie ohnehin längst global agieren und die einzelnen Staaten gegeneinander ausspielen können.
Was uns also fehlt, sind ebenso globale Einrichtungen von den Menschen, durch die Menschen und für die Menschen (und die mehr-als-menschliche Welt).
Nachtrag vom 09.02.: Vielleicht kommen wir dank planetarer Commons ohne die verhasste Weltregierung aus.
Wenn Menschen erkennen, dass ihre Commons ihren Lebensunterhalt nicht mehr sichern, beginnen sie vielleicht, ihr angeborenes Recht als Bürger dieser Erde einzufordern, lokal wie global. Diese Rechte auf alle Ressourcen – Atmosphäre, Ozeane, Wälder, Artenvielfalt, Nahrung, Wasser, Energie, Gesundheitsversorgung, Technik, Medien, Handel, Finanzen etc. – sind darin begründet, dass das Überleben und die Sicherheit einer Gemeinschaft von ihnen abhängen und wir gemeinsam für das Wohl nachkommender Generationen verantwortlich sind. Die Notwendigkeit der Existenzsicherung stattet uns mit einer neuen moralischen und sozialen Verantwortung aus: Ressourcennutzer müssen direkt in die Erhaltung und Produktion ihrer Commons einbezogen werden.
(Aus dem Commons-Buch von Silke Helfrich)
Nachtrag vom 17.03.: Vielleicht braucht es auch gänzlich neue Formen, die es bisher noch nicht gab, um die Menschheit als Ganzes zu denken.