Vorboten einer neuzeitlichen Völkerwanderung
Dieser ausführliche Artikel eines ehemaligen Asylrichters beinhaltet in meinen Augen die gesamte Breite und Tiefe dessen, was wir unter der Bezeichnung “Flüchtlingswelle” derzeit erleben:
Vorboten einer neuzeitlichen Völkerwanderung
Nur ein paar kurze Ausschnitte:
Was wir derzeit in TV-Bildern sehen, sind Flüchtlingsströme von Arm nach Reich und solche aus Kriegsgebieten in vermeintlich sichere Zufluchtsorte. Wir, die alteingesessenen Bewohner der wohlhabenden und befriedeten Länder Europas, müssen diese Entwicklung nicht schön finden. Doch darauf kommt es überhaupt nicht an. Denn niemand fragt uns nach unserer Meinung. Die Elenden und Verzweifelten dieser Welt machen sich einfach auf den Weg.
All denen, die über Neuankömmlinge die Nase rümpfen und „den ganzen Haufen“ postwendend zurückschicken wollen, sei angeraten, sich in einer ruhigen Stunde zu überlegen, was sich in unserem Land verändern müsste, damit sie sich selbst zu einer hochriskanten Reise ins Ungewisse entschließen.
Bei der Suche nach den Fluchtursachen fällt sofort auf, dass die mit Abstand meisten Flüchtlinge aus Ländern kommen, die in den letzten 20 Jahren Schauplätze von Kriegen waren: das ehemalige Jugoslawien, Afghanistan, Irak, Syrien, Äthiopien, Somalia. Nach einer Statistik des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) waren 2014 die genannten Staaten und ihre Zerfallsprodukte die zehn wichtigsten Herkunftsländer für Asylbewerber in Deutschland. Kennzeichnend für fast alle Kriege in den genannten Staaten sind völkerrechtswidrige Militärinterventionen, zumeist der USA und ihrer Bündnispartner. Das legt die Annahme nahe, dass diese Kriege hauptursächlich für die großen Fluchtbewegungen der Gegenwart sind. Diese Kriege bedeuteten Tod, Verarmung, Anarchie, Zerfall von Gesellschaften, religiös motivierte Massaker und Massenflucht. Nie gelang es, stabile Demokratien einzuführen oder gar Menschenrechte zu sichern. Wer also Massenflucht eingrenzen will, muss in einem ersten Schritt militärische Abenteuer unterbinden und Militärbündnisse wie die NATO auf reine Verteidigungsaufgaben zurückführen.
Statt dessen veranstaltet die NATO diesen Herbst das größte Manöver seit dem Ende des Kalten Krieges, an dem sich natürlich auch die Bundeswehr beteiligt.
Außerdem werden wir uns mit dem Gedanken anfreunden müssen, den notleidenden Staaten echte Solidarität anzubieten. Wohlklingende Rhetorik und Almosen werden auf Dauer nicht ausreichen. Auch Entwicklungshilfe in der Form von Absatzmärkten für unsere Industrieprodukte ist keine wirkliche Hilfe für die Menschen, die am Rande des Existenzminimums vegetieren. Wir müssen uns daran erinnern, dass unser heutiger Wohlstand nicht zuletzt auf Kosten der Herkunftsstaaten der uns überrollenden Flüchtlingswellen begründet worden ist. Wir müssen lernen zu teilen. Das ist zwar nicht einfach, aber notwendig. […] Die Alternative ist im Grunde sehr einfach: Entweder wir geben den Armen so viel von unserem Wohlstand ab, dass sie glauben, es lohnt sich, in der Heimat zu bleiben oder, wenn wir dazu nicht fähig sind, dann werden sie sich ihren Anteil bei uns abholen. Diesen Vorgang bezeichnet man verniedlichend als Völkerwanderung.
Und in diesem Absatz sehe ich allerdings einen großen Knackpunkt:
Wir müssen uns deshalb heute in Erinnerung an diese grandiose Gemeinschaftsleistung nicht ängstigen vor ein paar Hunderttausend Flüchtlingen, auch dann nicht, wenn deren Zahl noch weiter steigt. Wir müssen uns nur bemühen, aus der Not eine Tugend zu machen. Dazu brauchen wir Solidarität untereinander und Solidarität mit den Flüchtlingen. Sie wollen in ihrer großen Mehrzahl nicht schmarotzen, sondern ihren Beitrag in der Gesellschaft leisten.
Die Solidarität untereinander lässt gerade in Deutschland doch sehr zu wünschen übrig, wie die ungleiche Vermögensverteilung verdeutlicht. Zwangsmaßnahmen würden die Konflikte nur noch anheizen, deshalb setze ich darauf, dass sich der Geist des Schenkens weiter verbreitet. Und für uns alle besteht die Aufgabe darin, Spannungen auszuhalten und damit die gesellschaftliche und globale Dissoziation nach und nach aufzuheben.
Update: Noch ein Interview, das bis zur Wurzel des Übels geht: Sind tote Flüchtlinge unvermeidlich für unseren Wohlstand?
Die Ursache liegt in einer Weltordnung, die darauf ausgelegt ist, dass die erfolgreichen kapitalistischen Staaten Westeuropas und Nordamerikas den Nutzen aus der Welt ziehen und die Armutsresultate, die sie dabei überall produzieren, und das Elend, das dabei notwendig zustande kommt, bei sich nicht haben wollen. Das ist was anderes als die Schuldfrage, die so beliebt ist. Man sagt entweder, das sind kriminelle Schleuserbanden, es ist die schlimme EU-Politik, es sind die Flüchtlinge selber oder die korrupten Regierungen vor Ort. Die Schuldfrage behauptet nämlich immer, dass das Elend eigentlich nicht sein müsste, hätten alle alles richtig gemacht. Ich will das Gegenteil behaupten: Für diese Weltordnung sind die Flüchtlinge unvermeidlich.
Ich bin nicht dagegen zu helfen. Das soll jeder tun, so gut er kann. Boote chartern, Schlafsäcke verteilen, sein Geld abgeben. In dieser Hinsicht tun auch viele Leute viel. Nur scheinbar ändert das alles gar nichts an den Ursachen und an der Not. Darum muss man grundsätzlicher werden, wenn man sich nicht mit diesem zynischen Verhältnis abfinden will. Hilfe ist immer dann nötig, wenn Hilfsbedürftigkeit erstmal in der Welt ist. Die deutschen Sozialverbände helfen seit über 150 Jahren—und das halte ich für ein trauriges Urteil. Wenn man sich nicht mehr mit den Ursachen der Notlagen in Deutschland oder der Welt befassen will, dann ist Hilfe gar kein erster Schritt zur Überwindung der Probleme, sondern nur die Betreuung des Leids.
Update vom 16.09.: Der ausführliche englische Artikel We Can’t Address the EU Refugee Crisis Without Confronting Global Capitalism haut in die gleiche Kerbe:
The main lesson to be learned is therefore that humankind should get ready to live in a more “plastic” and nomadic way: Rapid local and global changes in environment may require unheard-of, large-scale social transformations. One thing is clear: National sovereignty will have to be radically redefined and new levels of global cooperation invented. And what about the immense changes in economy and conservation due to new weather patterns or water and energy shortages? Through what processes of decision will such changes be decided and executed? A lot of taboos will have to be broken here, and a set of complex measures undertaken.
Und das hat Europa zu tun, um die eigene Identität zu wahren:
No tolerance of religious, sexist or ethnic violence on any side, no right to impose onto others one’s own way of life or religion, respect of every individual’s freedom to abandon his/her communal customs, etc. If a woman chooses to cover her face, her choice should be respected, but if she chooses not to cover it, her freedom to do so has to be guaranteed. Yes, such a set of rules privileges the Western European way of life, but it is a price for European hospitality. These rules should be clearly stated and enforced, by repressive measures (against foreign fundamentalists as well as against our own anti-immigrant racists) if necessary.
Noch ein Update vom 16.09.: Die Festung Europa betreibt weiter ihre Abschottung, auch auf anderen Kontinenten wachsen die Zäune und Mauern an den Grenzen, wie die Fotostrecke der NZZ zeigt.
Update vom 10.12.: Es sieht so aus, als ob die EU zu einem guten Teil selbst verantwortlich ist für die Flüchtlingswelle, die derzeit heranrollt; die Zahlungen für Lebensmittel für syrische Flüchtlinge in den Nachbarländern wurden massiv zusammengekürzt. Dabei hat nicht nur die EU “gespart”, sondern auch andere Geberländer.
Update vom 15.12.: Die Festung Europa rüstet auf.
Update vom 25.12.: Übersicht beim Economist über Grenzzäune und -mauern weltweit.