Sterbendes Geld
Über das Sterben lassen bin ich wieder bei Silvio Gesell und seinem Freigeld gelandet. Denn sein Ausgangspunkt ist ja, dass das Geld in unserem Geldsystem quasi unsterblich ist. Nun könnte man zwar einwenden, dass es das durch die Geldschöpfung als Schuldverhältnis gerade nicht ist, weil es im Augenblick der Tilgung wieder verschwindet, also “stirbt”. Das ist aber bei einem Giro- oder Sparkonto nicht der Fall. Die dort gehorteten Guthaben haben kein Verfallsdatum, sondern sind auf die Ewigkeit angelegt. Gleiches gilt für Fonds aller Art, deren zugrundeliegende Investments zwar oft befristet sind, der Fonds selbst aber wieder kein Verfallsdatum hat. Ebenso sind Aktien prinzipiell unsterblich, es sei denn, das Unternehmen geht pleite. Und das Bargeld ist dadurch unsterblich, dass man physisch beschädigte Scheine bei der Zentralbank jederzeit und unbegrenzt umtauschen kann.
Im Sinne der Saldenmechanik bedeutet das, wenn Schulden nicht unbegrenzt wachsen sollen, sondern auch mal wieder reduziert werden, müssen wir die Guthaben im gleichen Maße reduzieren (die Guthabenbremse). Das ließe sich mit einer Geldhortungsgebühr à la Gesell, einem negativen Zins, realisieren.
Hier komme ich nun zur Überschrift: Im deutschsprachigen Raum vermeidet die Freiwirtschafts-Bewegung Gesells ursprünglichen Begriff rostendes Geld (oder auch Schwundgeld) und spricht lieber von fließendem Geld. Ich bin inzwischen geneigt, sogar das rostende Geld noch zu verschärfen und direkt zu benennen, worum es geht: Sterbendes Geld. Denn, wie Claudia Cardinal sagt: »Denn bereits mit unserer Geburt kommen wir als Sterbende auf die Welt.« Das sollte mit dem Geld nicht anders sein. Charles Eisenstein schreibt dazu:
Warum scheint uns “Verfall” schlecht und “Bewahrung” gut? Diese Einstellung kommt wieder aus der Geschichte vom Aufstieg, in der es die Bestimmung der Menschheit ist, die Natur zu überwinden, über Entropie, Chaos und Verfall zu triumphieren, und wissenschaftlich, rational, sauber und kontrolliert Ordnung zu schaffen. Sie wird ergänzt durch die Geisteshaltung der Getrenntheit, nach der eine immaterielle, ewige, unsterbliche göttliche Seele einen vergänglichen, sterblichen, profanen Körper bewohnt. Also wollen wir den Körper unterwerfen, die Welt unterwerfen, und den Verfall aufhalten. Unglücklicherweise sperren wir uns dadurch auch gegen den größeren Prozess, dessen Teil der Verfall ist: Erneuerung, Wiedergeburt, Rückgewinnung und die spiralförmige Entwicklung hin zu einer noch höheren Komplexität. Glücklicherweise nähern sich die Geschichten von Getrenntheit und Aufstieg ihrem Ende. Es ist an der Zeit, die Schönheit und Notwendigkeit des Verfalls wieder zu erkennen, sowohl in unserem Denken als auch in unserer Wirtschaftstheorie.
Eine Krise ist laut Wikipedia “eine problematische, mit einem Wendepunkt verknüpfte Entscheidungssituation”. Entscheidungen bedeuten immer, sich für das eine und gegen alle anderen Möglichkeiten zu entscheiden. Anders ausgedrückt: die anderen Möglichkeiten sterben lassen, damit die gewählte Möglichkeit wachsen kann. Unsere allumfassende Krise liegt vielleicht auch daran, dass wir nicht wagen, vieles sterben zu lassen, damit anderes leben und wachsen kann. Sabine sagt immer gerne “Altes vergeht und macht Platz für Neues”. Wir haben immer weniger Platz für Neues, weil wir den vorhandenen (endlichen!) Platz immer voller stopfen und kaum etwas Altes vergehen lassen.
Dazu gehört, wie ich vorhin schon schrieb, das Alte zu betrauern. Und wo findet das in unserer Wirtschaft schon statt? So gut wie nirgends. Sei es, dass ein Projekt eingestampft wird, eine Filiale geschlossen, ein fauler Kredit abgeschrieben oder was auch immer. All das sind mehr oder weniger kleine Tode. Es wäre glatt eine Aufgabe, Sterbeheilkunde in der Wirtschaft zu etablieren. Das dürfte in Deutschland eine besondere Herausforderung sein, denn Scheitern gilt hierzulande als Makel. In seinem Artikel zitiert Wolf Lotter Rolf Mathies:
Betrachte man die „ganz normale Denkweise in der deutschen Wirtschaft, dann stelle ich fest: Wir leben in zwei Welten. In einer ist man sich des Risikos bewusst und spielt nicht damit rum. In dieser Welt geht man mit der Möglichkeit des Scheiterns nüchtern um – und kalkuliert sein Risiko. Das ist die Unternehmerwelt.“ In der anderen Welt, sagt Rolf Mathies, der Welt der Manager und der leitenden Angestellten, müsse man das Wort Risiko nur aussprechen, und schon „gucken alle ängstlich“. In der Komfortzone ist Scheitern tabu.
Und Sterben schon mal sowieso. Mir fällt in dem Zusammenhang ein Unternehmer ein, bei dem ich mal per Mitfahrgelegenheit mitgefahren bin. Er hat mich damit begrüßt, dass er mir gesagt hat wo die Rettungsdecke, der Verbandskasten und die Warnweste im Auto verstaut sind. Da war ich erst mal baff, habe mich dann aber bei 200 auf der Autobahn so geborgen gefühlt wie selten, weil der Fahrer sich des Risikos zu sterben voll bewusst war.
In einem Punkt gehe ich weiter als Rolf Mathies und sage, wir brauchen sehr wohl eine Kultur des Scheiterns. Denn Sterben ist das ultimative Scheitern – um das niemand herumkommt. Damit kommt auch niemand um das Betrauern des Gescheiterten herum. Wir alle ergeben uns irgendwann, hissen die weiße Fahne und hauchen unseren letzten Atemzug aus. Da ist dann nichts mehr mit Erfolg, mit Gewinnen. Das ist eine Kapitulation mit Totalverlust, die letzte, ultimative Pleite.
Zugleich kann uns dieser Totalverlust daran erinnern, dass wir zwischen Geburt und Tod alles geschenkt bekommen bzw. gewonnen haben. Denn wir sind mit leeren Händen auf die Welt gekommen, und wir gehen auch wieder mit leeren Händen.
Und im Sinne der Reinkarnation geht’s dann in die nächste Runde. Der Prozess von Geborenwerden und Sterben selbst ist unendlich. Nur die Abschnitte zwischen einer Geburt und der nächsten, zwischen einem Tod und dem nächsten, sind endlich und begrenzt.
Um noch mal die Kurve zum Eingangsthema zu kriegen: Sterbendes Geld kann ein wesentlicher Bestandteil einer solchen Kultur des Scheiterns sein. Und mit dem entsprechenden Bewusstsein ist Sterbendes Geld dann auch ein empathieförderliches Geldsystem, denn das Sterben ist etwas, das wir alle gemeinsam haben.