"Schulden muss man doch zurückzahlen"
In diesem Satz steckt unheimlich viel, darunter eine Menge Sprengstoff. Auch in Debatten um die Griechenlandkrise fällt er immer wieder. Deshalb nimmt in diesem Beitrag David Graeber eine zentrale Stellung ein, den ich bisher hier im Blog nur gestreift hatte. Mit dem Buch Schulden: Die ersten 5000 Jahre hat er einen wirklich dicken Schinken zum Thema geschrieben. Von Ökonomen wird oft kritisiert, dass er Schulden auch stark unter moralischen Gesichtspunkten analysiert. Dass der obige Satz so häufig fällt, gibt ihm Recht, die Ökonomen haben da einen blinden Fleck. Immerhin steckt schon im Wort Schulden die (auch moralische) Schuld. Und spätestens die Gläubiger als Gegenpol führen mitten in die Religion hinein.
In einem Interview zu seinem Buch geht er, wie auch in der Einleitung des Buches, auf diesen Satz ein:
Was mich an einigen der philosophischen Fragen interessierte, die ich schließlich im Buch erkunden sollte, war die besondere moralische Kraft des Begriffs der Schulden. So viele ansonsten mitfühlende Menschen, auch wenn man ihnen von den schrecklichen, fast unvorstellbar unmenschlichen Leiden der Menschen im globalen Süden wegen der Verwüstungen durch den IWF erzählte, reagierten gewöhnlich immer noch etwa so: “Nun, das ist schrecklich, dass so viele Kinder eines langsamen und schmerzhaften Todes gestorben sind, aber sicherlich muss man doch seine Schulden bezahlen! Sie haben sich das Geld geliehen! Du kannst doch unmöglich vorschlagen, dass sie nicht zahlen… ” Wie kommt es, dass die Moral der Schulden jede andere erkennbare Form der Moral übertrumpfen kann, und Dinge, mit denen in einem anderen Zusammenhang niemand jemals einverstanden wäre, plötzlich akzeptabel scheinen lässt?
In einer Facebook-Diskussion kam sogar der Begriff “Diebstahl” auf im Zusammenhang damit, dass jemand seine Schulden nicht zurückzahlt. Im Falle von Griechenland lautet die Reaktion darauf dann “Mord”, wenn wir bei Straftatbeständen bleiben, denn die “Sparpolitik” tötet, wie ein griechischer Arzt berichtet.
Allerdings kann nur von Diebstahl die Rede sein, wenn der Schuldner von vornherein wusste, dass er nicht wird tilgen können, und der Gläubiger das nicht wusste. Juristisch ausgedrückt liegt Diebstahl oder Betrug nur dann vor, wenn der Schuldner den Gläubiger über seine Bonität arglistig getäuscht hat. Im Fall von Griechenland waren die Probleme des Landes lange und weithin bekannt.
In allen anderen Fällen geht ein Gläubiger schlicht ein wirtschaftliches Risiko bei einem Kreditgeschäft ein. Da Gläubiger und Schuldner allerdings von unterschiedlichen Voraussetzungen starten, besteht das Risiko des Gläubigers nur darin, sein Geld zu verlieren, während der Schuldner seine Freiheit (bis hin zu seinem Leben, siehe Griechenland) aufs Spiel setzt.
Weiterhin besteht ein gewichtiger Unterschied zwischen Fremd- und Eigenkapital: Ersteres wird in unserer Rechtsordnung bevorzugt, und zwar gleich doppelt, wie Renée Menendez ausführt.
Hier interessiert nur dieser Aspekt: Gebe ich einem Unternehmen Kredit und es geht pleite, dann werde ich als Gläubiger zuerst bedient. Die Eigentümer kommen zuletzt dran, wenn dann überhaupt noch etwas übrig ist.
Unsere Rechtsordnung sorgt also dafür, dass Fremdkapitalgeber ein künstlich niedrigeres Risiko eingehen als Eigenkapitalgeber. Dabei besteht das Risiko in beiden Fällen darin, einem Unternehmer Geld zur Verfügung zu stellen, damit dieser damit wirtschaftet.
Es sagt niemand “Eigenkapital muss man doch zurückbekommen”. Dass das auch mal futsch sein kann, erscheint normal. Offensichtlich steckt in Schulden noch mehr als nur wirtschaftliches Risiko.
An dieser Stelle kommen wir zu Paul C. Martin (PCM) und damit erneut zum Faktor Macht in der Wirtschaft. Martin spricht in seiner Debitismus-Theorie u.a. von einer Urschuld, die jeder Mensch sich selbst gegenüber habe (aus “Der Kapitalismus - Ein System, das funktioniert”):
Jeder Mensch ist ein Schuldner. Er ist es sich zumindest schuldig, sich selbst zu erhalten.
Eine Sichtweise, die klar dem Mangel verhaftet ist anstatt der Fülle.
Was er über die religiöse Entstehung von Geld sagt, finde ich sehr plausibel:
“Geld” ist sehr wahrscheinlich vor allem aus Schuldbeziehungen heraus entstanden, die sich zwischen den Menschen und den von ihnen verehrten Gottheiten ergeben haben. Die Gottheit wird nicht nur “verehrt”, sondern man ist ihr etwas “schuldig”, das Opfer.
Hieran wird besonders deutlich, dass jedes Schuldverhältnis aus ungleichen Startbedingungen bzw. Machtverhältnissen entsteht, ursprünglich Götter (bzw. deren Vertreter, die Priester) vs. Menschen.
PCM schreibt weiter:
Ungerecht am Kapitalismus ist nur eines: sein Start. Ungerecht ist die Tatsache, dass es am Start einen Gläubiger gibt und einen Schuldner, und dass der Gläubiger besser dasteht als der Schuldner. Sonst wäre der eine kein Gläubiger und der andere kein Schuldner. Diese “Ungerechtigkeit” darf nicht primitiv interpretiert werden, so nach dem Motto: Der Gläubiger hat’s halt und ist ergo reich, der Schuldner aber hat’s nicht und ist ergo die arme Sau. Es sind nämlich überhaupt nicht die Einkommens- und/oder Vermögensunterschiede, die es gibt, die es geben muss zwischen Gläubiger und Schuldner, weil es sonst nie zur Teilung in Gläubiger und Schuldner käme. Nicht irgendwelche “Unterschiede” oder “Ungerechtigkeiten” schicken den Kapitalismus in sein fatales Rennen. Sondern schlicht und einfach die Tatsache, dass der Gläubiger gegenüber dem Schuldner zu Beginn des Gläubiger/Schuldner-Verhältnisses auf etwas verzichtet, was er nicht benötigt. Wobei “benötigt” hier definiert ist als: zur Abtragung der ominösen Urschuld benötigt, also um der Notwendigkeit, am Leben bleiben zu müssen (und zu wollen) gerecht zu werden.
Mit diesen Worten erzählt PCM wie aus dem Bilderbuch die Geschichte des Selbst in Getrenntheit, wie Charles Eisenstein es nennt. In der Geschichte des Selbst in Verbundenheit heisst “auf etwas verzichten, was ich nicht benötige” Schenken. Das kommt in PCMs Weltbild offensichtlich überhaupt nicht vor, und auch in dem der meisten Gläubiger nicht. Und da liegt der Hund begraben.
Kehren wir zurück zu David Graeber, der den Übergang von Patronage- zu Schuldbeziehungen im antiken Griechenland beschreibt:
Das entscheidende Element solcher Patronage-Beziehungen bestand darin, dass sie auf beiden Seiten mit gewissen Verantwortlichkeiten verbunden waren. Ein adeliger Krieger und sein niederer Schützling galten als zwei völlig unterschiedliche Arten von Menschen. Dennoch wurde von beiden erwartet, die (grundsätzlich verschiedenen) Bedürfnisse des jeweils anderen anzuerkennen. Die Umwandlung von Patronage- in Schuldbeziehungen – indem man etwa einen Vorschuss an Saatkorn als Darlehen oder gar als verzinsliches Darlehen behandelte – veränderte alles. Und dies vollzog sich in zwei völlig gegensätzliche Richtungen. Einerseits impliziert ein Darlehen keine fortdauernden Verpflichtungen des Gläubigers. Andererseits unterstellt ein Darlehen, wie schon mehrfach betont, eine gewisse formale, rechtliche Gleichheit von Kreditnehmer und Kreditgeber. Man geht davon aus, beide befänden sich zumindest in irgendeiner Art auf einem gemeinsamen Niveau und seien beide grundsätzlich dieselbe Art von Menschen. Das ist zweifellos die denkbar schonungsloseste und gewaltsamste Form von Gleichheit. Weil sie jedoch als eine Gleichheit auf dem Markt verstanden wurde, waren solche Abmachungen noch schwerer auszuhalten.
Weil also behauptet wird (von den Gläubigern), Schuldner und Gläubiger seien wirtschaftlich und rechtlich gleichwertig, können sie behaupten, sie an Stelle der Schuldner würden auch alles in ihrer Macht stehende tun, um die Schuld zurückzuzahlen, und den Satz aus der Überschrift zum Besten geben. Innerhalb des Schuldverhältnisses sind sie jedoch eben gerade nicht gleichwertig. Schuldverhältnisse sind Herrschaftsverhältnisse.
In einer Schenkökonomie werden wieder alle Beteiligten gleichwertig, denn (Kapitel 18 von “Ökonomie der Verbundenheit”):
Wenn wir im Geist des Schenkens leben, gehört dazu auch, dass wir uns der Verpflichtung fügen, zu bekommen und zu geben.
Ich wiederhole noch mal: der Verpflichtung, zu bekommen und zu geben. Unsere patriarchalen Religionen verpflichten uns zwar, zu geben. Aber wo hat man das schon gehört, eine Verpflichtung, zu bekommen?!
Im Schenken sind wir tatsächlich gleichwertig, denn mal schenke ich, mal werde ich beschenkt. Und das Schenken stiftet langfristige Beziehungen, während eine Schuldbeziehung endet, sobald die Schuld getilgt ist.
Wer sich als getrenntes und eigenständiges Selbst versteht, vermeidet natürlich Beziehungen, denn in diesem Glauben können Beziehungen nur Herrschaftsbeziehungen sein. Das Geld spielt dabei die Schlüsselrolle (wieder Eisenstein):
Wenn wir für alles, was wir erhalten, bezahlen, bleiben wir unabhängig, ungebunden, frei von Verpflichtung, und frei von Bindungen. Keiner kann einen Gefallen geltend machen, keiner hat uns gegenüber ein Druckmittel in der Hand.
Siehe dazu auch mein Beitrag über Bedürfnisse/Bedürftigkeit, brauchen und frei sein.
Eisenstein schreibt weiter:
Wenn wir jetzt aus unserer Illusion des Nicht-Anhaftens, der Unabhängigkeit und Transzendenz aufwachen, suchen wir wieder die Verbindung mit unserem wahren, umfassenden Selbst. Wir verzehren uns nach Gemeinschaft. Unabhängigkeit und das Nicht-Anhaften waren sowieso nie etwas anderes als Illusionen. Die Wahrheit ist, war immer, und wird immer sein, dass wir gänzlich und hoffnungslos voneinander und von der Natur abhängig sind. Und es wird sich auch nie ändern, dass die einzige Alternative zum abhängigen, bekommenden, liebenden und verlierenden Sein das nicht-am-Leben-Sein ist.
Zweifellos liegt auch im Nicht-Anhaften eine Wahrheit; eine Wahrheit, die die Kultur des Schenkens widerspiegelt, weil wir uns dann weniger fest an unsere Dinge klammern. Dieses Nicht-Anhaften entsteht aber nicht aus völliger Unabhängigkeit oder Abgrenzung heraus, sondern es findet in einem Umfeld von Verhaftet-Sein und Verbundenheit statt. Geschenke helfen sogar dabei, das anhaftende Ego zu befreien, weil sie das Selbst über das Ego hinaus erweitern und das Eigeninteresse mit dem Wohl eines größeren, mit allem verbundenen Seins in Einklang zu bringen. Geschenke entstehen aus, und sie dienen der Erweiterung des Selbst über das Ego hinaus. Sie sind zugleich Ursache und Folge. Fühlen wir uns mit jemand anderem verbunden, dann haben wir das Bedürfnis, ihn zu beschenken. Je mehr wir geben, desto mehr spüren wir unsere Verbundenheit. Das Geschenk ist die gesellschaftliche und stoffliche Manifestation einer zugrundeliegenden Einheit aller Wesen.
Im Geist des Schenkens halte ich es für sinnvoll, nicht mehr von Schulden zu sprechen. Wenn wir das übergangsweise doch tun, dann führt der Geist des Schenkens dazu, dass ich Schulden zurückzahlen will und nicht muss. Denn mein Leben wurde mir geschenkt. Nur in diesem Sinne “schulde” ich mir selbst, mein Leben zu erhalten. Es geht dann nicht mehr um moralische Verpflichtungen, um Gut und Böse. Und ich lebe dann in einem Zustand der Fülle.
Es ist also jetzt an den Gläubigern, das Herrschaftsverhältnis zu beenden und zu sagen: Nein, ihr müsst eure Schulden nicht zurückzahlen, es war ein Geschenk. Für die Schuldner heisst das im Anschluss, das erst mal sacken zu lassen. Denn wenn die Gläubiger es ernst meinen, sind die Schuldner wirklich reich beschenkt worden. Wer ein solches Geschenk voll annimmt, entwickelt ganz von selbst das Bedürfnis, nun selbst zu schenken.
Ein schöner Traum? Charles Eisenstein spricht von der “schöneren Welt, von deren Möglichkeit uns unsere Herzen erzählen”. Was erzählt Dein Herz Dir? Lausche ihm doch mal.
Nachtrag vom 23.07.: Hatte ganz vergessen, auf das Schuldrecht hinzuweisen. Und im Artikel Wer Schulden hat, ist schuld? habe ich noch etwas Interessantes gefunden:
Denn ebenso wie in der deutschen Sprache verwenden auch die Griechen seit der Antike das gleiche Wort für Schulden und Schuld.
Auch das verbindet also Deutschland und Griechenland.
Update vom 04.08.: Danke an thewisemansfear für den Tipp Nigel Dodd. Ich binde gleich mal dieses kurze Interview mit ihm ein, wo er darauf eingeht, Geld nicht als ein Etwas, sondern einen Prozess zu betrachten:
The London School of Economics Professor of Sociology and author of The Social Life of Money spoke at Nesta. He argued that we’re experiencing a moment of realignment in the world’s monetary landscape.
Nigel advocated pluralism in monetary models, and emphasised the importance of viewing money as a process rather than a thing. Watch the video highlights from the event and find out why McDonald’s is leading the way for cuddly currencies.
Update vom 28.08.: Gerade wies mich jemand auf Christoph Türcke hin, der in seinem Buch Mehr! Philosophie der Geldes noch weiter in der Geschichte zurückgeht als David Graeber, bis hin zu den Menschenopfern der Altsteinzeit. Ein Beitrag vom Deutschlandfunk zitiert aus seinem Buch:
Die Zahlung hat nicht irgendwann mit der Münzerfindung begonnen. Sondern, nach allem was wir wissen, seit es Opfer gibt, gibt es Zahlung. Opfer sind die Urzahlung. Und sie erfüllen auch insofern den Tatbestand des Geldes, als sie ja nicht irgendeine Privatwährung sind, sondern sie sind die Währung eines ganzen Kollektivs.
Nachtrag vom 31.07.2018: Den Türcke habe ich inzwischen längst gelesen & darüber ausführlich gebloggt in Schuld und Geld als magische Gedankenformen.