Mikroaggressionen und Rang
Mir war ja bisher noch gar nicht klar, wie krass das in den USA an den Hochschulen mit Mikroaggressionen abgeht. Zur Veranschaulichung vergleiche ich eine Mikroaggression mal mit einem Krankheitserreger (abgesehen davon, dass ich nichts von der Ansteckungstheorie halte, aber das ist eine andere Geschichte). Der Begriff “Mikroaggression” beschreibt winzige übergriffige Äußerungen in der alltäglichen Kommunikation. Damit dürften diese Äußerungen ähnlich häufig vorkommen wie eben Krankheitserreger.
Manche verbalen Äußerungen erfüllen hierzulande den Straftatbestand einer Volksverhetzung oder Beleididung. Darunter fallen solche Mikroaggressionen aber gerade nicht. In aller Regel beabsichtigen diejenigen, die sie äußern, gar keine Aggression (Wikipedia: “In den meisten Fällen nehmen die Verursacher von Mikroaggression sich selbst als wohlwollend und unvoreingenommen wahr.”). Um wieder beim Vergleich zu bleiben, auch einem Grippevirus unterstelle ich jetzt nicht, dass es absichtlich Menschen krank machen will. Es will sich einfach nur vermehren.
Kommen wir nun zu dem Artikel, der diesen Beitrag hier ausgelöst hat. Es handelt sich um die Zusammenfassung eines Papers zweier Soziologen (Microaggression and Moral Cultures) im Blog von Jonathan Haidt. Die beiden Autoren postulieren, dass mit dem Aufkommen der Wahrnehmung von Mikroaggressionen (denn der Trend geht von den Opfern derselben aus) eine historisch neue Form von Moral aufkommt, eben die Moral des Opfertums. Als erste Form der Moral nennen die beiden die Ehre, die im Laufe des 18./19. Jahrhunderts durch die Würde abgelöst wurde, die ja auch im Artikel 1 unseres Grundgesetzes steht. Da erkenne ich aus Sicht der integralen Theorie, wieder mal in der Sprache von Spiral Dynamics (SD), die Ehre als dem ROTEN Mem zugehörig, die Würde dem ORANGEN. Mithin fehlt da eine, nämlich die BLAUE Stufe der Moral, die ich mal als Rechtschaffenheit bezeichne und z.B. im europäischen Mittelalter ansiedle. Mag sein, dass die Adligen untereinander auf ihrer Ehre bestanden haben, die Gesellschaft insgesamt wurde doch mehr von Rechtschaffenheit zusammen gehalten, da hat sich wirklich kaum mal jemand duelliert. Viel häufiger gingen die Menschen zur Beichte und bekamen vom Priester die Absolution erteilt und taten Buße. Wo es dann wieder mit SD zusammen passt, ist der nächste Schritt zur “Opfermoral”. Die entspricht nämlich dem GRÜNEN Mem. Manche mögen da mit Wilber vom “fiesen grünen Mem” als einer pathologischen Form sprechen, ich finde es wichtig, dass in dieser Welt auch die Stimmen der Opfer gehört werden. Und gleichzeitig finde ich es, auch im Sinne der Opfer selber, wichtig, dass diese nicht in ihrer Opfertrance stecken bleiben.
Um zu wissen, worüber wir hier genau reden, werft mal einen Blick ins Microaggressions Project, das solche Mikroaggressionen sammelt.
Was den Autoren und Jonathan Haidt am meisten Sorgen bereitet, ist, dass in einer solchen Kultur die Opfer sich an Dritte wenden, also meistens an Institutionen wie Gleichstellungsbeauftragte, oder direkt an die Öffentlichkeit in Form eines Aufschreis. Den passenden, universell einsetzbaren Slogan dafür liefert Stéphane Hessel mit Empört Euch!. Diese Sorge ist aus ORANGER Sicht natürlich berechtigt, bildet ORANGE doch, wie ROT, einen individualistischen Pol der Entwicklungsspirale. BLAU und GRÜN hingegen schwingen zum Kollektiv hin, dem sich die Einzelnen unterordnen. Das ist auch jetzt der Fall mit den Mikroaggressionen: Opfer tun sich zusammen als Opferkollektive. Ihnen ist es wichtiger, dazu zu gehören statt autonom und eigenständig zu sein. Wie es allerdings häufig auf dem Höhepunkt eines Mems geschieht, neigen sie dabei zur Übertreibung und schwächen sich selbst als Individuen. Darüber hat Jonathan Haidt einen Vortrag gehalten, Coddle U vs. Strengthen U: What a Great University Should Be, allerdings ganz aus der Perspektive des individualistischen ORANGE.
Um wieder zum anfänglichen Vergleich zurück zu kommen: Wenn ein Kind in den ersten Jahren seines Lebens von allen Krankheitserregern so gut wie möglich fern gehalten wird, hat sein Immunsystem keine Chance, sich auf ein Leben mit solchen Erregern vorzubereiten. Genauso schwächen sich die Menschen an amerikanischen Hochschulen selbst, wenn sie jede kleinste Aggression von vornherein gleich verurteilen. Werden entsprechende Äußerungen sogar verboten (Stichwort Politische Korrektheit), dann installiert man damit eine Gedankenpolizei à la Orwell. Diese politische Gefahr streife ich im heutigen Beitrag nur am Rande, so wesentlich ich sie auch finde.
Im Zusammenhang mit Mikroaggressionen stehen Triggerwarnungen, die mir das erste (und bisher auch einzige) Mal in der Kriegsenkel-Facebook-Gruppe begegnet sind. Dort fand ich sie sinnvoll, weil manchmal Leute von ihren Eltern oder Großeltern wirklich grausame Dinge berichten, was dann bei anderen schon mal einen Flashback auslösen kann. Nun zeigt allerdings sogar die aktuelle Traumaforschung, dass Triggerwarnungen der Heilung abträglich sind. Denn sie fördern Vermeidungsstrategien. Damit bleiben die Opfer durch ihre Traumatisierung in ihrem Leben eingeschränkt. Nun kann man sich natürlich auf den Standpunkt stellen, alles ist besser, als sich mit dem ursprünglichen Erlebnis noch mal zu konfrontieren. Dann darf man sich aber über die Einschränkungen auch nicht beklagen.
Beim letzten Seminar meiner Ausbildung in Prozessorientierter Psychologie hat Sebastian ausführlich über Schockzustände gesprochen. Dabei wurde deutlich, dass er, wie Gunter Schmidt, ungern von Trauma oder Traumatisierung spricht bzw. deutlich macht, dass eine Traumatisierung nur eine mögliche Folge eines ungünstig verarbeiteten Schockzustandes ist. Es gibt keine traumatisierenden Ereignisse! Sehr wohl gibt es Ereignisse, die zu einer “Akuten Belastungsreaktion” führen können, wie Schock nach ICD-10 offiziell heisst. Auch hier schreibe ich “führen können”, weil ein Angehöriger einer Spezialeinheit oder auch ein Yogi mit vielen Ereignissen gelassen umgehen kann, die jemand aus der Normalbevölkerung komplett aus der Bahn werfen würden.
Kleine Randbemerkung: es gibt inzwischen schon ein Buch über Micro-Trauma (auf Englisch).
Mir geht es hier, gerade auch im Zusammenhang mit der von mir gegründeten Kriegsenkel-Gruppe in Leipzig, explizit darum, Opfer zu stärken und nicht weiter zu schwächen. Das heisst letztlich, dass die Opfer aufhören, welche zu sein, was natürlich meist ein langer Prozess ist. Zu einer Gruppe dazu zu gehören, kann dabei auch ungemein stärken und ist deshalb nicht zu verachten. Die Frage ist, wie kommen wir in einer Gruppe zusammen, in der wir uns gegenseitig stärken, statt uns in unserer Schwäche zu bestätigen?
Die Moral des Opfertums hilft dabei offensichtlich nicht weiter; eher tun das Konzepte wie die Resilienz, was schlicht die Fähigkeit meint, Krisen zu meistern. Noch einen Schritt weiter geht Nassim Nicholas Taleb mit seinem Buch Antifragilität (das ich nicht gelesen habe, nur die Rezension). Seinen Begriff der Antifragilität bringt auch Jonathan Haidt auf, über ihn bin ich auch erst darauf aufmerksam geworden. Taleb unterscheidet drei Stufen, mit Herausforderungen umzugehen:
- Fragil ist, was bei größerer Belastung kaputt geht, was im Lauf der Zeit durch Benutzung verschleißt.
- Robust (oder eben resilient) ist, was auch starken Belastungen stand hält
- Antifragil ist, was durch Belastungen gestärkt oder verbessert wird.
Wer sich gegen Mikroaggressionen wehrt, hat wahrscheinlich erst mal als einen ganz schönen Brocken daran zu schlucken, dass es etwas Antifragiles überhaupt gibt. ORANGE wundert sich darüber kein bisschen, ORANGE spricht sowieso lieber von Herausforderungen als von Problemen…
Und damit kommen wir zum zweiten Teil der Überschrift, zum Rang. Das ist ein ganz zentraler Begriff der Weltarbeit, und meint die Summe aller Privilegien in einer bestimmten Situation (immer in Beziehung zu anderen zu verstehen). Die Erkenntnis der Weltarbeit über die Rolle von Rang in Konflikten lautet in einem Satz zusammengefasst: Unbewusster Rang ist die Haupt-, wenn nicht sogar die einzige Ursache für Konflikte.
Das können wir an einem Beispiel vom Microaggressions Project mal durchexerzieren: “I don’t get why you’re excluding me like this. I’m Jewish; I know oppression.” Da identifiziert sich jemand als Jude, der daneben auch ein weißer Mann und Sohn zweier Ärzte ist und an einer Ivy League-Universität studiert. Als Jude kennt er Unterdrückung, aber bestimmt nicht dort, wo er gerade ist. Ein klarer Fall für Check your privilege! – einerseits. Es zeigt, wie der nicht bewusste (hohe!) Rang dieses Mannes einen Konflikt auslöst, der “eigentlich nicht nötig wäre”.
Andererseits, um mal andere Fälle von Mikroaggression mit reinzumischen: Wer meint, durch einen Tweet traumatisiert werden zu können, verfügt über einen verschwindend geringen psychologischen Rang. Dazu müsst ihr nun wissen, dass man sich psychologischen Rang gerade dadurch erwirbt, dass man Krisen erfolgreich meistert. Wer sich nun ständig gegen Mikroaggressionen wehrt, versucht gar nicht, Herausforderungen zu meistern, sondern richtet sich in seiner Opferrolle häuslich ein. Dieser Weg führt zu einem immer engeren Bewusstsein, während ich es ja bekanntlich mehr mit Bewusstseinserweiterung halte.
Deshalb zum Abschluss zwei Inspirationen:
Spiritualität in der Traumatherapie mit EMDR
Und der gute alte Mr Ramesh passt hier perfekt hin. :)