Hypnosystemik: Lebenslang würdigen, dass es schlimm war und dass man damit umgegangen ist
Heute habe ich mir den Vortrag Vom Trauma zu befreitem, erfüllendem Leben von Gunther Schmidt angesehen, dessen hypnosystemischen Ansatz ich vor kurzem entdeckt habe.
Daraus habe ich für mich vor allem herausgezogen, dass er das Opfer-Ich immer voll mit einbezieht und würdigt. Er geht sogar so weit zu sagen, dass man lebenslang würdigen soll, dass es schlimm war, in Form persönlicher Gedenkrituale. Da bin ich mit meiner Radikalität (Stichwort Makellosigkeit) wohl manches Mal übers Ziel hinaus geschossen & habe das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Explizit kritisiert er Steve de Shazers oft zitierten Satz “Problem talk creates problems, solution talk creates solutions.” Denn meist war es im System für die Opfer verboten, über ihr Leiden zu sprechen. Wenn dann ein lösungsfokussierter Therapeut ankommt und wieder nur über mögliche Lösungen, nie über die als problematisch erlebte Situation spricht, dann bestätigt er damit nur die Opfertrance.
Da der hypnosystemische Ansatz zugleich immer die Ressourcenperspektive einnimmt, wird ein Schuh daraus, indem wir sagen, dass ein “Opfer” schlimmen Erlebens daraus Kompetenzen entwickelt hat, mit dem Schlimmen umzugehen. Schmidt sagt dazu “Das Trauma enthält schon die Kompetenzinformationen für die Lösung.” Er deutet Flashbacks dahingehend, dass sie nach Kompetenzen rufen, die bestimmte Bedürfnisse befriedigen können. Ein anderer Satz aus dem Vortrag:
Die Opferseite ist ein Bodyguard für ein erfüllendes, befreiendes Erleben im Hier und Jetzt.
Was meint er damit? Wenn das Opfer-Ich Gefahr, Erniedrigung o.ä. “wittert”, dann tut es genau das: es wittert mögliche Bedrohungen der Selbstwirksamkeit und erfüllt damit die wichtige Wahrnehmungsfunktion eines Frühwarnsystems, noch bevor das Bewusstsein es mitbekommt.
Das persönliche Gedenkritual erinnert sowohl daran, dass ich Schlimmes erlebt habe, als auch daran, dass ich (kompetent) damit umgegangen bin.
Übrigens weist Schmidt gleich zu Beginn seines Vortrags darauf hin, dass allein der Gebrauch der Worte “Trauma” und “traumatisiert” eine Opfertrance induzieren kann. “Ich bin traumatisiert” – und schwups “bin” ich tatsächlich traumatisiert. Formuliere ich es beispielsweise so “Ich habe Schreckliches erlebt”, dann bezeichnet das ein Erleben in der Vergangenheit, das als solches mein Erleben jetzt nicht beeinflussen muss und zugleich das Schreckliche von damals würdigt.
Noch konkretere Hinweise sowohl für therapeutisches Handeln als auch im eigenen Alltag bieten die verschiedenen Artikel von Lydia Hantke. Von ihr gibt es auch ein kurzes und dabei sehr verständlich vorgetragenes Video Was ist eigentlich ein Trauma?
Wenn ich die Rollen von Täter auf der einen Seite und Opfer auf der anderen verallgemeinere in Täteraspekt als Handeln und Opferaspekt als Erleben, dann wird klar, dass beide gemeinsam diese Welt gestalten. Wer nur handelt, macht sich zum Roboter, wer nur erlebt, zum passiven Signalempfänger. Das Erleben, die “Opferperspektive”, gehört damit wesentlich zum Menschsein dazu, gleichberechtigt mit der Täterperspektive.
Don Juan spricht oft von der “Ganzheit des Selbst”. Das deute ich jetzt mal so, dass Makellosigkeit neben makellosem Handeln ebenso aus makellosem Erleben besteht. Das habe ich ja selber im Vipassana trainiert, gerade nicht zu handeln, sondern was auch immer erscheint, zu 100% nur zu erleben. Im reinen Opfersein löst sich sozusagen das Opfersein gerade auf in reines Sein, reines Erleben. Auf der anderen Seite des makellosen Handels löst sich analog das Tätersein auf in reines Handeln (was Sebastian Elsaesser so schön einen “freien Akt” nennt). Erst beides zusammen erzeugt diese duale Welt der Erscheinungen. In diesem Sinne bezeichne ich auch die Erschaffung dieser Welt im Urknall als einen freien Akt, sozusagen den ultimativen freien Akt. Innerhalb dieser Welt haben wir unsere Freiheit eingeschränkt, damit eine ganz bestimmte, eben diese Welt daraus wird. Und in diesem Sinne können wir uns als Opfer dieser Welt betrachten. Und mit Magick katapultieren wir uns radikal-konstruktivistisch wieder über die Grenzen dieser Welt hinaus, ziehen uns wie Münchhausen am eigenen Schopf aus dem Sumpf dieser Realität – wenn wir das denn wollen. Dann können wir diese Welt allerdings auch nicht mehr zu 100% erleben, das geht eben nur als Opfer dieser Welt.
Huuuh, ich hoffe, dieser Beitrag hat sich nicht zu abgefahren für euch entwickelt, zum Ende hin ist es mal wieder mit mir durchgegangen. ;-) Ich meine das jedenfalls völlig ernst, aber wie schon Niklas Luhmann festgestellt hat: “man kann nicht sagen, dass man meint, was man sagt.”