Mein Kampf: Lernen als Zeichen von Schwäche
Direkt am Tag, als er in den Kinos anlief, habe ich mir den Film Er ist wieder da angesehen und bin im Anschluss ohne Umweg in den Buchladen gelaufen, wo ich mir dann auch das Buch gekauft habe. Das habe ich nun auch durch. Jetzt sind die Originalquellen dran, im Moment lese ich Mein Kampf. Dabei finde ich besonders signifikant, was schon im “Er ist wieder da”-Buch zitiert wurde:
In dieser Zeit bildete sich mir ein Weltbild und eine Weltanschauung, die zum granitenen Fundament meines derzeitigen Handelns wurden. Ich habe zu dem, was ich mir so einst schuf, nur weniges hinzulernen müssen, zu ändern brauchte ich nichts.
Dieser Führer der nationalsozialistischen Bewegung sagte damit von sich selbst, dass er aufgehört hatte, noch dazuzulernen. Was ich schon in der Schulzeit formuliert hatte – “Der 1. Hauptsatz aller Wissenschaft lautet: Es könnte auch anders sein” – ging diesem Hitler völlig ab. Er hatte sich felsenfest in seinem Standpunkt eingerichtet, so ist es und nicht anders. Das führt er später noch aus:
Auch der Dreißigjährige wird im Laufe seines Lebens noch vieles zu lernen haben, allein es wird dies nur eine Ergänzung und Ausfüllung des Rahmens sein, den die grundsätzlich angenommene Weltanschauung ihm vorlegt. Sein Lernen wird kein prinzipielles Umlernen mehr sein, sondern ein Hinzulernen, und seine Anhänger werden nicht das beklommene Gefühl hinunterwürgen müssen, von ihm bisher falsch unterrichtet worden zu sein, sondern im Gegenteil: das ersichtliche organische Wachsen des Führers wird ihnen Befriedigung gewähren, da sein Lernen ja nur die Vertiefung ihrer eigenen Lehre bedeutet. Dies aber ist in ihren Augen ein Beweis für die Richtigkeit ihrer bisherigen Anschauungen.
Ein solches “granitenes Fundament meiner Weltanschauung” gab ihm damit eine unheimliche Stärke, machte ihn unerschütterlich. Der Satz aus der Überschrift stimmt nämlich: Will man eine bestimmte Vorstellung unbedingt in die Tat umsetzen, wie z.B. ein Tausendjähriges Reich errichten, dann stört Lernen dabei. Denn dadurch würde sich ja die ursprüngliche Vorstellung verändern.
Den perfekten Gegenentwurf dazu liefert der Satz Konrad Adenauers, den ich schon im Beitrag zum Inneren Anarchismus zitiert hatte:
Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern, nichts hindert mich, weiser zu werden.
Hitler wollte explizit nicht weiser werden, weil er seine Weisheit schon für fertig und abgeschlossen hielt.
Und ich kann sogar den Bogen spannen zu den Anschlägen in Paris, zu denen Nils Minkmar auf Spiegel Online schreibt:
Schutzlosigkeit ist das Kennzeichen unserer offenen Gesellschaft, die hohe Zahl der Opfer ist ihr Preis.
Wir (“der Westen”) haben uns doch vor langer Zeit kollektiv entschieden für mehr Freiheit. Der Preis dafür ist weniger Sicherheit – die eh von vornherein eine Illusion war. Eine Wehrhafte Demokratie, wie sie unser GK-Lehrer immer beschwor, ist mehr eine Demokratur als eine echte Demokratie. Eine Demokratie, die meint, sich und ihre Institutionen schützen zu müssen, misstraut ihrem Souverän, der Bevölkerung, und braucht deshalb Geheimdienste wie den “Verfassungsschutz”. Freiheit stirbt mit Sicherheit. Der “Verfassungsschutz” ermordet Leute im Namen der Demokratie (bei Geheimdiensten gilt für mich der Grundsatz “im Zweifel gegen den Angeklagten”, denn dieser Angeklagte handelt nach dem Prinzip, mich zu belügen und mir seine Taten zu verheimlichen).
Mit den Werkzeugen der Integralen Theorie wird deutlich, dass es sich dabei um einen Entwicklungskonfikt handelt. In der Sprache von Spiral Dynamics spricht ein Hitler Menschen an, die ihren Schwerpunkt auf Rot bis Blau haben, und stößt diejenigen auf Orange und darüber ab. Rot ist fasziniert von der unerschütterlichen Stärke, mit der er seinen Standpunkt vertritt, Blau findet Sicherheit in seinem klar strukturierten und unveränderlichen Weltbild. Orange fragt sich fassungslos, wie man nur so stumpfsinnig und verbohrt sein kann. Nach meinem Eindruck hat sich der gesellschaftliche Schwerpunkt heute, im Jahr 2015, gegenüber den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts doch ein gutes Stück in Richtung Orange und Grün verschoben. Führen geht heute anders. Außerdem fehlt eine Persönlichkeit wie Hitler, die so vollkommen von sich selbst und ihrer Mission überzeugt ist; jedenfalls ist mir keine solche bisher aufgefallen. Das macht ja gerade den Reiz von “Er ist wieder da” aus: Da kommt in Gestalt des originalen Hitler eben eine solche Persönlichkeit in unsere pluralistische Zeit und hat eine ganz klare, ganz eindeutige Vision und Mission, und er weiß sich vom Schicksal auserwählt. Wer kann das heute schon von sich behaupten, wo wir doch alle mehr oder weniger Orientierung suchen?
Für mich geht es nicht wieder zu einem solchen Führer und einem eindeutigen Ziel, sondern weiter ins Unbekannte. Das Buch Wenn alles zusammenbricht von Pema Chödrön beschreibt das anschaulich:
In diesem wackeligen Zwischenzustand zu bleiben – mit einem gebrochenem Herzen zu leben, mit Schmetterlingen im Bauch, mit dem Gefühl von Hoffnungslosigkeit oder dem Wunsch nach Revanche – ist der Pfad wahren Erwachens. Bei der Unsicherheit zu bleiben, den Bogen rauszukriegen, wie man sich inmitten des Chaos entspannt, zu lernen, nicht in Panik zu verfallen – das macht den spirituellen Pfad aus. Zu lernen, uns selbst zu erwischen, uns zärtlich und mitfühlend selbst zu erwischen, das ist der Pfad des spirituellen Kriegers.
Das nationalsozialistische Deutschland bestätigt diesen Satz drastisch:
Eine Gesellschaft, die sich aus Menschen zusammensetzt, die alle unbedingt festen Boden unter die Füße bekommen wollen, ist kein sehr mitfühlender Ort.