Geheimdienste & Co: Lust am Verstecken spielen
Dieser Beitrag richtet sich persönlich an alle Menschen, die bei Geheimdiensten oder auch in Sicherheitsabteilungen von Unternehmen und anderen Einrichtungen arbeiten. Er markiert einen grundlegenden Wechsel in meiner Haltung. An vielen Stellen habe ich in meinem Blog bisher gefordert, Geheimdienste abzuschaffen. Das würde Ihnen allerdings auf einen Schlag die Lebensgrundlage nehmen, und das will ich auch nicht. Statt dessen lade ich Sie, und auch die “Netzgemeinde”, zu einem Dialog auf ganz persönlicher Ebene ein.
Auch Sie, liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Geheim- und Sicherheitsdienste, liegen mir am Herzen. Und ich kann gut verstehen, was Sie an Ihrer Aufgabe reizt. Bestimmt haben Sie als Kinder schon gerne Verstecken gespielt, so wie ich auch und wahrscheinlich alle Kinder.
Es ist ein richtiger Nervenkitzel, loszurennen und einen Ort zu suchen, an dem ich mich verstecken kann, so dass mich die anderen möglichst lange dort nicht finden. Ich triumphiere innerlich, wenn ich die Suchenden beobachte oder höre, wie sie alles durchstöbern und mich immer noch nicht entdeckt haben.
Und doch: am Ende will ich von den anderen gefunden werden. Sollte ich mich so gut versteckt haben, dass sie irgendwann aufgeben und abziehen, und ich dann ganz allein in meinem Versteck zurückbleibe -– das fühlt sich schrecklich einsam an. In diesem Moment gehöre ich nicht mehr dazu, die anderen haben das Spiel aufgegeben, das wir alle gemeinsam angefangen haben. Der Triumph des Siegers ist schal und wird von der Einsamkeit überschattet.
Auch aus der Sicht der Suchenden ist es höchst frustrierend, aufgeben zu müssen, und da ist auch ein Hauch von Angst: Was passiert jetzt mit dem, der da irgendwo noch einsam in seinem Versteck hockt? Wird er elendiglich dort verrotten? Sollten wir doch noch weitersuchen? Es wird bald dunkel! Und doch, es hat ja keinen Zweck, wir finden ihn einfach nicht.
Andererseits, wenn ich am Ende doch gefunden werde, ist das ein richtiger Cocktail von Gefühlen: da ist ein kleiner stechender Schmerz, weil ich das Spiel verloren habe, weil es mir nicht gelungen ist, sie endgültig auszutricksen. Gleichzeitig freue ich mich auch, dass ich als eine Art “verlorener Sohn” wieder in die Gemeinschaft zurückkehre und eben nicht einsam in meinem Versteck hocken bleibe.
Und diejenige, die mich ent-deckt (ein sehr bildliches Wort), feiert ihren Triumph und freut sich, dass das Geheimnis meines Versteckes nun keines mehr ist. Alle freuen sich, dass ich nun wieder zur Gruppe dazugehöre, nicht mehr in meiner Sonderrolle abgetrennt bin. Und da ist auch eine Trauer über das verlorengegangene Geheimnis, das Gefühl des Rätselhaften, des Numinosen, das ja gerade dadurch entsteht, dass wir nicht vereint, sondern voneinander getrennt sind.
Als noch kleinere Kinder haben wir das Spiel “Ich sehe dich nicht, du siehst mich nicht” gespielt. Wir haben uns die Augen zugehalten, so dass wir die Welt da draußen nicht sehen konnten, und geglaubt, die Welt sieht uns jetzt auch nicht mehr. Aber wie groß wäre der Schrecken gewesen, die Augen wieder zu öffnen und die Welt ist weg, für immer? Und wie groß war die Freude, unsere Welt (und unsere Mami) mit geöffneten Augen wiederzufinden.
Liebe Menschen in den Geheim- und Sicherheitsdiensten, ich betrachte Sie nicht als Feinde oder Gegner, sondern als Mitmenschen. Ich möchte mit Ihnen in einen Dialog treten, auf der Grundlage unserer gemeinsamen Lust am Verstecken spielen. Und ich lade alle ein, die diese Lust ebenfalls kennen, sich daran zu beteiligen. Die Herausforderungen, die wir uns gemeinsam geschaffen haben, können wir auch nur gemeinsam bewältigen.
Nachdem ich kürzlich die WDR-Dokumentation Spitzel und Spione – Innenansichten aus dem Verfassungsschutz gesehen habe, weiss ich, dass etliche von Ihnen zum Dialog bereit sind, wenn auch vorerst in begrenztem Ausmaß. Das ist doch ein hoffnungsvoller Anfang.
Wie ich schon im Beitrag Die Schatten beleuchten geschrieben habe, kann es zwar wehtun, lange gehütete Geheimnisse zu lüften. Zugleich verbindet uns das aber miteinander. Wenn wir nicht nett, sondern echt sind, uns zuallererst nicht mehr selbst belügen, dann zeigen wir uns einander auf einer tiefen gemeinsamen Ebene.
Und auf dieser Ebene kann ich sagen Ich habe nichts zu verbergen.
Um das Ganze zum Schluss noch streng logisch anzugehen, zitiere ich im folgenden noch aus Kapitel 16 des Buches “Der neue Prometheus” von Robert Anton Wilson:
Jede Geheimpolizei muss von einem Elite-Korps oder einer in zweiter Linie verantwortlichen Geheimpolizei überwacht werden. Erstens, weil Infiltration der Geheimpolizei aus subversiven Gründen stets ein Hauptziel interner subversiver Elemente, aber auch fremder, feindlicher Mächte sein wird. Zweitens, weil die Geheimpolizei eine geradezu phantastische Fähigkeit dafür entwickelt, andere, egal ob sie der Regierung angehören oder nicht, zu bedrohen und zu erpressen.
Stalin liess drei Chefs seiner Geheimpolizei hintereinander exekutieren, weil er diese Gefahr erkannt hatte. Und Nixon seufzte mitten im Watergate-Skandal einmal sehnsüchtig: «Tja, Hoover war ein Schauspieler. Er hätte gekämpft. Das war der Punkt. Er hätte ein paar Leute fertiggemacht, sie zu Tode erschreckt. Er hatte über jeden ein Dossier.» (Hervorhebungen vom Autor.) Also müssen die Auftragsgeber der Geheimpolizei auch diese überwachen lassen, um sicher zu gehen, dass sie nicht zuviel Macht bekommen.
Hier schleicht sich ein ziemlich düsterer Fall von unendlichem Rückschritt ein. Jede in zweiter Linie verantwortliche Elite-Truppe wird ebenfalls Gefahr laufen, infiltriert zu werden oder nach Meinung ihrer Herren die Möglichkeit besitzen, zuviel Macht zu bekommen. Also muss auch sie von einer in dritter Linie verantwortlichen Geheimpolizei-Truppe observiert werden.
Kurz: wenn eine Regierung n Geheimpolizei-Organisationen beschäftigt, die sich gegenseitig bespitzeln, dann sind auch alle potentiell verdächtig und es bleibt ihr nichts anderes übrig, als den Rang n +1 zu schaffen. Und so weiter und so weiter.
In der Praxis lässt sich dieses Spiel natürlich nicht bis zur mathematischen Unendlichkeit durchspielen, sondern nur bis zu dem Punkt, wo alle Bürger sich gegenseitig bespitzeln. Oder bis kein Geld mehr da ist.
Die nationale Sicherheit zieht also im Wettstreit mit dem logisch Empedoklesschen unendlichen Rückschritt immer den Kürzeren, weil sie ihn gerade für die «Sicherheit» unbedingt braucht. In dieser Lücke zwischen dem Ideal «Eine ganze Nation unter Überwachung – mit Abhöranlagen und Postkontrolle für jeden» und der recht eingeschränkten Wirklichkeit von begrenztem Personal und begrenzten Geldmitteln schiesst die Paranoia ins Kraut, nicht nur bei den Bürgern, sondern auch bei der Polizei.
So hat die UdSSR nach zweiundsechzig Jahren marxistischer Spielchen mit der Geheimpolizei endlich einen Punkt erreicht, an dem die Alpha-Männchen sich vor Dichtern und Malern fürchten.
Bei Bespitzelungs- und Tarnungs-Aktionen führt Unsicherheit zu mehr Unsicherheit, Misstrauen zu mehr Misstrauen. Schon der blosse Akt einer Beteiligung an diesem Spiel, wie unbewusst er auch sein mag, selbst als observiertes Opfer oder als abgehörter Bürger, aktiviert letztendlich alle klassischen Symptome klinischer Paranoia.
Der Agent weiss zwar, wen er bespitzelt, aber er kann nie sicher sein, wer ihn bespitzelt. Könnte es nicht auch seine Frau sein, seine Geliebte, seine Sekretärin, der Zeitungsjunge, der Eismann?
Wenn es in einem Land eine Geheimpolizei gibt, ganz gleich wo das ist, dann werden in den Augen sämtlicher vorsichtiger und intelligenter Menschen alle Abteilungen und Unterabteilungen der Regierung, inklusive aller Institutionen, die gar nicht als Teil der Regierung zugelassen sind, verdächtig, weil sie entweder eine potentielle Tarnung der Geheimpolizei oder auch ein Zugang zu ihr sein könnten. Die Schlauen werden sich also merken, dass hinter dem Etikett HEW oder auch International Silicon and Pencil der CIA oder die N.S.A. stecken könnte.
In einem solchen Netzwerk aus Täuschung und Irreführung schiessen Verschwörungstheorien wie Pilze aus dem Boden. Wenn die Leute keine offiziellen Nachrichtenquellen haben, denen sie trauen und die ihnen auch verraten, was wirklich los ist, sind Gerüchte von entscheidender Bedeutung, wie man kürzlich herausgefunden hat. Ich selbst habe bei der Bürgerrechtsbewegung, der Anti-Kriegs-Bewegung, der Legalize Pot-Bewegung und anderen Dissidenten-Gruppierungen mitgearbeitet und bin dabei wiederholt von Freund A angesprochen worden, der mich vor Freund B warnte, der angeblich mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Agent der Geheimpolizei war, wobei ich später von Freund C informiert wurde, dass Freund A Agent des CIA war. Es erfordert schon empfindliches neurologisches Geschick, um in dieser Umgebung seinen Sinn für Humor zu behalten.
Je allgegenwärtiger die Geheimpolizei ist, um so wahrscheinlicher ist es, dass intelligente Männer und Frauen die Regierung fürchten und verabscheuen.
Die Regierung wiederum wird Grösse und Machtbefugnisse der Geheimpolizei erweitern, um sich selbst zu schützen, wenn sie entdeckt, dass eine wachsende Zahl von Mitbürgern die Regierung mit Furcht und Abscheu betrachtet.
Sie erkennen daher, dass hier ein Problem vorliegt. Lassen Sie uns darüber reden.
Als Beginn des Dialogs lade ich herzlich zu Kommentaren zu diesem Beitrag ein.
Nachtrag vom 01.10.2015: Das Peng!Collective hat eine Initiative für Geheimdienst-AussteigerInnen gestartet, Intelexit.
Nachtrag vom 23.04.2023: Hagbard Celine führt die grundsätzliche Problematik, die mit dem Auftreten von Geheimdiensten einhergeht, in seinen Gesetzen von Chaos, Zwietracht und Verwirrung umfangreich aus.