Makellos sein in der Krise
Mensch, wir sind ja nun schon länger im Ausnahmezustand & ich komme heute erst auf die Idee, Georg Piepers Buch Wenn unsere Welt aus den Fugen gerät aus dem Regal zu fischen. Darin beschreibt er im 6. Kapitel Die drei Phasen des [traumatischen] Erlebens. Und an der Stelle musste ich sofort an Don Juan Matus und das Konzept der Makellosigkeit denken. Die bildet quasi eine Abkürzung durch die skizzierten Phasen:
Erste Phase: Ablehnung
Geschieht ein Überfall, eine Vergewaltigung, ein Unfall oder eine Naturkatastrophe, ist die erste Reaktion der Betroffenen ein Gefühl des Nicht-wahrhaben-Wollens.[…]
Diese innere Ablehnungshaltung kostet die Betroffenen sehr viel Kraft. Da wir alle über unterschiedliche Kraftreserven verfügen, kann diese Phase unterschiedlich lange dauern. Nach Stunden, Tagen oder manchmal auch erst nach Wochen erlahmen jedoch bei jedem die Widerstandskräfte. Man hört auf, sich gegen die Situation aufzulehnen, wird antriebslos und resigniert. Damit beginnt die zweite Phase.
Das Kernkonzept der Makellosigkeit besteht darin, Energie zurückzuholen und sie gar nicht erst zu verschwenden. Ein makelloser Krieger überspringt diese Phase daher.
Zweite Phase: Verzweiflung und Depression
Jede Extremsituation – egal ob es sich dabei um einen Unfall, eine Naturkatastrophe, die Begegnung mit dem Tod und so weiter handelt – ist für die Betroffenen mit dem Gefühl des Kontrollverlusts verbunden. Menschen geraten plötzlich in eine Lage, die sie selbst nicht mehr beeinflussen können.
Damit genau das gar nicht erst passiert, betont Don Juan so vehement
Wir sind Staub in den Händen dieser Kräfte.
Wir haben von vornherein gar keine Kontrolle über die Situation; somit können wir sie auch nicht verlieren. Arnold Mindell drückt es in den zwei einfachen Worten aus Follow nature.
Interessanterweise verwendet Pieper genau die Formulierung “sich gehen lassen”, die Don Juan immer wieder als Gegenteil der makellosen Haltung eines Kriegers nennt:
In dieser Phase lassen sich viele Opfer gehen, sie pflegen sich nicht mehr und tun nichts, was ihnen den Alltag wenigstens minimal erleichtern würde.
Anders ausgedrückt: Sie achten nicht mehr darauf, ihre Energie bei sich zu behalten, sondern lassen sie achtlos auslaufen.
Dritte Phase: Akzeptieren oder Zerbrechen
Die notwendige Voraussetzung für den “erfolgreichen” Weg ist die innere Entscheidung des Betroffenen, die Situation, in der er sich befindet, zumindest für einen gewissen Zeitraum anzunehmen.[…]
In der dialektisch-behavioralen Therapie nach Marsha Linehan heisst diese Haltung “radikale Akzeptanz” und meint damit das Annehmen der Realität, der schwierigen Situation im Hier und Jetzt.
An dieser Stelle zitiere ich mal etwas ausführlicher aus Kapitel 11 von Reise nach Ixtlan “Die Stimmung eines Kriegers”:
»Für jede einzelne Handlung braucht man die Stimmung eines Kriegers«, sagte er. »Sonst wird man entstellt und häßlich. Ein Leben ohne diese Stimmung ist ohnmächtig. Sieh dich selbst an. Alles verletzt dich und macht dich unglücklich. Du jammerst und klagst und glaubst, jeder läßt dich nach seiner Pfeife tanzen. Du bist ein Blatt im Wind. In deinem Leben gibt es keine Kraft. Was für ein häßliches Gefühl muß das sein.
Ein Krieger hingegen ist ein Jäger. Er stellt alles in Rechnung. Das ist die Kontrolle, die er hat. Aber sobald seine Berechnungen durchgeführt sind, handelt er. Er läßt sich gehen. Das ist die Selbstvergessenheit. Ein Krieger ist kein Blatt im Wind. Niemand kann ihn hin und her schieben. Niemand kann ihn veranlassen, gegen seinen Willen oder gegen seine bessere Einsicht etwas zu tun. Ein Krieger ist darauf eingestellt, zu überleben, und er überlebt auf die bestmögliche Weise.«
Und wie der Wolf Michael in seinem Text über die Kunst des Pirschens schreibt:
So lange du nicht mit allem, was im Moment ist, einverstanden bist, bist du respektlos dir selbst gegenüber. Dir selbst, anderen und der ganzen Welt.
Nachtrag vom 18.11.: Sehr wichtiger Vortrag von Daniele Ganser über die verschiedenen Arten von Corona-Angst; bei mir überwiegt bisher die Diktatur-Angst. Besser ist es in jedem Fall, sich nicht von Angst welcher Art auch immer leiten zu lassen.