Giorgio Agamben über den Kapitalismus als leere Religion
Der italienische Philosoph Giorgio Agamben fiel mir zuerst auf durch das Interview “Europa muss kollabieren” in der Zeit.
Schon vor Monaten hatte mir nun ein Freund seinen langen Artikel Der Kapitalismus ist eine leere Religion, die vollständig auf Glauben – also Kredit – beruht. Wie kann sie funktionieren? in der NZZ empfohlen. Als ich den das erste Mal las, keimte schon der Plan, darüber zu bloggen. Offenbar musste dieser Plan allerdings erst noch eine ganze Weile reifen, bis ich ihn nun in die Tat umsetze.
Immerhin ist das Geld eines der Kernthemen meines Lebens. Von daher bilde ich mir ein, auch zu Agambens Artikel einiges sagen zu können.
Das faktische Ende des Bretton-Woods-Systems am 15. August 1971 ist in der Tat ein historischer Moment. Wie dieser zu bewerten ist, daran scheiden sich die Geister. Renée Menéndez betrachtet ihn z.B. als einen historischen Fortschritt:
Offenbar ist der doppelte Teilreservestandard – von Banken einerseits und der Zentralbank andererseits – nicht geeignet, um die Stabilität des Finanzsystems ausreichend sichern zu können, denn auch eine Zentralbank kann das „Basisgut“, auf das die nunmehr „Zentralbanknoten“ lauten, nicht autonom erschaffen. Die Lösung für dieses Problem lag dann auch darin, die Goldeinlösepflicht für die Zentralbanknoten häppchenweise schlichtweg abzuschaffen, so daß nur noch die Banken die Probleme des Teilreservestandards bewältigen müssen. (Interessanterweise bezieht sich die Einhaltung des Teilreservestandards irgendwann nicht mehr auf das der Einlösung früher zugrundeliegende Zahlungsmittel Gold, sondern auf den gemeinsamen Zahlungsmittelstandard „Zentralbanknote“.) Daß die Abschaffung der Goldeinlösepflicht nicht aus einer rationalen Entscheidung entstand, sondern aus der schnöden Notlage, eine Bankrotterklärung der FED und damit des US-Staates abzuwenden, entbehrt nicht einer gewissen Komik, weil es sich hier zeigt, daß Entwicklungssprünge doch häufiger durch Zufälligkeiten entstehen, als durch menschliche Mehr-oder-weniger-Genialität.
Agamben beschreibt ihn so:
Seit diesem Moment hatte ja die vom Präsidenten der Zentralbank gegengezeichnete Aufschrift, die auf vielen Banknoten zu lesen war (zum Beispiel auf dem Pfund und der Rupie, nicht aber auf dem Euro): «Ich verspreche, dem Inhaber den Betrag von . . . zu zahlen», endgültig ihre Bedeutung verloren. Der Satz bedeutete nun: Im Tausch gegen diesen Geldschein hätte die Zentralbank auf Anfrage (falls jemand dumm genug war zu fragen) nicht eine gewisse Menge an Gold ausgehändigt (für den Dollar ein Fünfunddreissigstel einer Unze), sondern einen genau gleichwertigen Schein. Das Geld, entleert von jedem anderen Wert, war rein selbstbezüglich geworden.
Sachlich ist das richtig. Aber war es die Katastrophe, als die es von den Gold bugs und anderen betrachtet wird? Ich habe hier im Blog schon mal über Fiat Money als die Welt der unbegrenzten Möglichkeiten geschrieben.
Eine Strömung, von der ich bekanntlich viel gelernt habe, auch wenn ich sie nicht als der Weisheit letzter Schluss betrachte, ist der Debitismus, mit dem Agamben vermutlich viel anfangen kann. Denn der Debitismus geht (historisch korrekt) davon aus, dass alle Geldwirtschaft von Schuldverhältnissen ausgeht.
Mit Walter Benjamins Text Kapitalismus als Religion werde ich mich bei Gelegenheit noch befassen, Agamben bezieht sich auch darauf. Er fasst zusammen:
Anders als bei Max Weber stellt nach Benjamin der Kapitalismus nicht nur eine Säkularisierung des protestantischen Glaubens dar, sondern ist selbst ein wesentlich religiöses Phänomen, das sich parasitär aus dem Christentum entwickelt. Als eine solche Religion der Moderne ist sie durch drei Grundzüge bestimmt:
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Sie ist eine Kultreligion, vielleicht die extremste und absoluteste, die es je gegeben hat. Alles darin hat nur Bedeutung in Bezug auf die Erfüllung eines Kultes, nicht in Bezug auf ein Dogma oder eine Idee.
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Dieser Kult ist permanent, «die Zelebrierung eines Kultus sans trêve et sans merci», ohne Rast und ohne Gnade. Darin lässt sich nicht zwischen Festtagen und Arbeitstagen unterscheiden, sondern hier ist ein einziger, ununterbrochener Fest- und Arbeitstag, an dem die Arbeit mit der Feier des Kultes zusammenfällt.
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Der kapitalistische Kult ist nicht auf die Erlösung oder Sühne für eine Schuld ausgerichtet, sondern auf die Schuld selbst. «Der Kapitalismus ist vermutlich der erste Fall eines nicht entsühnenden, sondern verschuldenden Kultus [. . .] Ein ungeheures Schuldbewusstsein, das sich nicht zu entsühnen weiss, greift zum Kultus, um in ihm diese Schuld nicht zu sühnen, sondern universal zu machen [. . .] und vor allem den Gott selbst in diese Schuld einzubegreifen [. . .] Gott ist nicht tot, er ist ins Menschenschicksal einbezogen.»
Darin erinnert vieles an die Analyse von Christoph Türcke, der das Konzept von Schuld bereits in der Altsteinzeit ansiedelt.
Agamben zieht aus dieser kapitalistischen Kultreligion einen pessimistischen Schluss:
Gerade weil er mit all seiner Kraft nicht zur Erlösung, sondern zur Schuld, nicht zur Hoffnung, sondern zur Verzweiflung strebt, zielt der Kapitalismus als Religion nicht auf die Veränderung der Welt, sondern auf ihre Zerstörung.
Die Megamaschine, der megatechnische Pharao, haben nur eins im Sinn: sich nach & nach die ganze Welt einzuverleiben, bis nichts mehr übrig bleibt. Lassen wir kurz Charles Eisenstein zu Wort kommen:
Eine alte chinesische Sage mag helfen zu illustrieren, was da vor sich geht. Es gab ein Monster namens Tao Tie, so erzählt man sich, das einen unersättlichen Appetit hatte. Es verschlang jede Kreatur in der Nähe, ja sogar die Erde selbst – aber es war immer noch hungrig. Also begann es schließlich, seinen eigenen Körper zu fressen: die Arme, dann die Beine und dann den Rumpf, sodass nichts mehr übrig blieb, außer dem Kopf.
Übrigens musste ich bei Agambens Artikel auch an das vierte Bild aus Michael Endes Buch Der Spiegel im Spiegel denken. Da zitiere ich jetzt keinen Ausschnitt, das ganze Buch ist wunderbar.
Ebenso wurde ich an die buddhistische Geldphilosophie von Karl-Heinz Brodbeck erinnert, der schon mehrfach hier im Blog vorkam.
Den Dreh zum Glauben an das Geld bekommt Agamben folgendermaßen:
Der Kapitalismus ist eine Religion, die vollständig auf Glauben beruht, eine Religion, deren Anhänger allein aus dem Glauben (sola fide) leben. Und wie nach Benjamin der Kapitalismus eine Religion ist, in welcher der Kult sich von jedem Gegenstand und die Schuld von jeder Sünde, also von jeder möglichen Erlösung, emanzipiert hat, so hat der Kapitalismus unter dem Aspekt des Glaubens keinen Gegenstand: Er glaubt an die reine Tatsache des Glaubens, an den reinen Kredit, besser gesagt: an das Geld. Der Kapitalismus ist also eine Religion, in welcher der Glaube – der Kredit – an die Stelle Gottes getreten ist. Anders ausgedrückt: Da die reine Form des Kredits das Geld ist, ist der Kapitalismus eine Religion, deren Gott das Geld ist.
Das macht dann wiederum die Banken zu den modernen Tempeln bzw. Kirchen:
Das bedeutet: Die Bank, die nichts anderes ist als eine Maschine zur Vergabe und Verwaltung von Kredit, hat die Stelle der Kirche eingenommen, und indem sie über den Kredit verfügt, manipuliert und regelt sie den Glauben, den unsere Zeit noch in sich trägt – das knappe, unsichere Vertrauen.
Historisch ist das allerdings alles andere als neu, denn umgekehrt waren ja die antiken Tempel die ersten “Banken”. Die Beziehung von Geld & Glauben ist also schon sehr alt. Ihr Charakter hat sich allerdings über die Jahrtausende verändert, und da spielt der 15. August 1971 eine große Rolle.
Was bedeutete für diese Religion die Entscheidung, die Konvertierbarkeit in Gold aufzuheben? Sicherlich so etwas wie eine Klärung ihres eigentlichen theologischen Gehalts, vergleichbar der Zerstörung des Goldenen Kalbs durch Mose oder der Festlegung eines Konzilsdogmas – auf jeden Fall einen entscheidenden Schritt zur Reinigung und Ausformung des eigentlichen Glaubens.
Noch im 19. Jahrhundert waren die Kapitalisten skeptisch in Bezug auf (Bank-) Kredite und versuchten sie zu vermeiden:
Robert Kurz hat beschrieben, wie sich der Kapitalismus des 19. Jahrhunderts, der immer noch auf Solvenz und Misstrauen gegenüber Krediten beruhte, in den heutigen Finanzkapitalismus verwandelt hat. «Auf der Stufe des von heute aus gesehen geradezu archaischen Privatkapitals im 19. Jahrhundert mit seinen persönlichen patriarchalischen Eigentümern und den dazugehörigen Familienclans waren noch Prinzipien der Seriosität und ‹Solvenz› gültig, die eine ständige grössere Kreditaufnahme geradezu als unanständig und als ‹Anfang vom Ende› erscheinen liessen; die damalige Trivialliteratur ist voll von Geschichten, in denen ‹grosse Häuser› durch Abhängigkeit vom Kredit zugrunde gerichtet werden, und Thomas Mann hat dieses Sujet in einigen Passagen seiner ‹Buddenbrooks› bis zum Nobelpreis hochgefahren. Natürlich war das zinstragende Kapital als solches von Anfang an unentbehrlich für das sich herausbildende System, aber es erreichte noch keinen entscheidenden Anteil an der kapitalistischen Gesamtreproduktion; und namentlich die Geschäfte des ‹fiktiven Kapitals› galten sozusagen als Gauklerszene der Hochstapler und ‹unehrlichen Leute› am Rande des eigentlichen Kapitalismus. Noch Henry Ford lehnte lange Zeit eine Kreditaufnahme seines Unternehmens bei den Banken ab und wollte seine Investitionen nur aus Eigenkapital finanzieren.»
Was ich anderswo als “die Welt der unbegrenzten Möglichkeiten” beschrieb, charakterisiert Agamben so:
Im Laufe des 20. Jahrhunderts wurde dieses patriarchale Konzept vollständig aufgelöst, und das Unternehmenskapital stützt sich heute zunehmend auf Geldkapital, das vom Bankensystem geliehen wird. Unternehmen müssen also im Grunde, um weiter produzieren zu können, zunehmende Mengen an künftiger Arbeit und Produktion im Voraus mit Hypotheken belasten. Das Güter produzierende Kapital ernährt sich fiktiv von seiner eigenen Zukunft. Die kapitalistische Religion lebt, im Einklang mit Benjamins These, von einer ständigen Verschuldung, die nicht getilgt werden kann und darf.
Die Modern Monetary Theory bildet derzeit den theoretischen Hintergrund davon.
Und an dieser Stelle
Manchmal frage ich mich, wie die Leute nur so hartnäckig ihren Glauben an die kapitalistische Religion bewahren können. Denn es ist klar: Sobald die Leute ihren Glauben an den Kredit einstellten und aufhörten, auf Kredit zu leben, würde der Kapitalismus sofort zusammenbrechen. Allerdings zeichnen sich, wie mir scheint, Hinweise auf einen beginnenden Atheismus im Hinblick auf Gottes Kredit ab.
darf natürlich das Känguru nicht fehlen ;-)
Als nächstes bezieht Agamben sich auf Guy Debord, der wohl auch lesenswert ist:
Vier Jahre vor Nixons Erklärung veröffentlichte Guy Debord «Die Gesellschaft des Spektakels». Die zentrale These des Buches lautete: Der Kapitalismus in seiner extremen Phase erscheint als eine immense Anhäufung von Bildern, und darin entweicht alles, was unmittelbar gebraucht und erlebt wurde, in eine Vorstellung. […]
Dem entspricht laut Debord eine Transformation der menschlichen Sprache, die nichts mehr mitzuteilen hat und sich deshalb als «Kommunikation des Nicht-Kommunizierbaren» (These 192) zeigt. Zum Geld als reiner Ware gehört eine Sprache, in der die Verbindung zur Welt zerbrochen ist. Sprache und Kultur, in den Medien und in der Werbung voneinander getrennt, werden zur «Vorzeigeware der Spektakel-Gesellschaft», die sich einen wachsenden Teil des Nationalprodukts zu sichern beginnt. Für ebendiese sprachliche und kommunikative Natur des Menschen, die sich im Spektakel derartig enteignet sieht, gilt: Was die Kommunikation verhindert, ist ihre Verabsolutierung in einer getrennten Sphäre, in der es nichts mehr zu kommunizieren gibt ausser der Kommunikation selbst. In der Spektakel-Gesellschaft sind Menschen von dem getrennt, was sie vereinen sollte.
Das Geld als der große Trenner, Spalter, Teiler. Laut dem Historiker Richard Seaford hat sich im antiken Griechenland das unterscheidende Denken gerade deshalb entwickelt, weil es die erste voll durchmonetarisierte Gesellschaft war:
Es ist kein Zufall, dass dort, wo das symbolische Geld entstand, im antiken Griechenland, auch die anderen weltanschaulichen und philosophischen Grundsteine gelegt wurden, die noch heute unser Denken prägen, zum Beispiel die Idee vom Individuum oder Konzepte wie Logik und Verstand. In seinem wissenschaftlichen Meisterwerk “Money and the Early Greek Mind” hat Richard Seaford den Einfluss des Geldes auf die griechische Gesellschaft und das griechische Gedankengut untersucht und daraus Eigenschaften hergeleitet, die das Geld einzigartig machen: Geld ist beides, konkret und abstrakt, es ist einheitlich, unpersönlich, ein universelles Ziel und ein universelles Mittel, und es kennt keine Grenzen. Die Etablierung dieser neuen Macht in unserer Welt hatte weitreichende Auswirkungen, von denen viele so tief in unserer Kultur und unserem Denken, der Psyche und der Gesellschaft verwurzelt sind, dass wir sie kaum mehr wahrnehmen, geschweige denn in Frage stellen.
Geld ist einheitlich, weil Münzen als identisch gelten (solange sie alle denselben Wert bezeichnen), unabhängig von kleinen Unterschieden im Material. Neu oder alt, abgenützt oder glatt, alle Ein-Drachme-Münzen sind gleich. Das war etwas Neues im sechsten Jahrhundert vor Christus. Seaford beobachtet, dass in archaischen Zeiten Macht einzigartigen Talisman-ähnlichen Objekten zugeschrieben wurde (z.B.: einem Zepter, von dem man sich erzählte, es stamme von Zeus). Geld ist das Gegenteil: Seine Macht hat es durch ein normiertes Zeichen, das alle Schwankungen der Reinheit oder des Gewichts bedeutungslos macht. Qualität ist nicht wichtig, nur Quantität. Weil Geld in alle anderen Dinge umgerechnet werden kann, steckt es diese mit derselben Eigenschaft an: Sie werden zu Waren-Objekten.
Agamben vergleicht das Geld mit der Sprache dahingehend, dass beide nur Sinn ergeben, wenn sie sich auf etwas außerhalb von ihnen beziehen:
Von der Ähnlichkeit zwischen Sprache und Geld gemäss dem Ausspruch Goethes verba valent sicut nummi (Wörter haben den Wert von Münzen) weiss das Erbe des gesunden Menschenverstandes. Doch wenn wir versuchen, die in dem Ausspruch unterstellte Beziehung ernst zu nehmen, offenbart sich darin mehr als eine Analogie. Wie Geld sich auf Dinge bezieht, indem es sie als Waren konstituiert und marktfähig macht, so bezieht sich Sprache auf Dinge, indem sie sagbar und mitteilbar werden. Wie jahrhundertelang das Geld seine Funktion als universale Entsprechung zum Wert aller Güter durch sein Verhältnis zum Gold erfüllen konnte, liegt die Garantie für die kommunikative Fähigkeit der Sprache in ihrer Absicht, etwas zu bezeichnen, in ihrem tatsächlichen Bezug zur Sache.
An dieser Stelle erweist er sich als Gold bug:
Die hindeutende Verbindung in der Sprache zu den Dingen, real gegenwärtig im Geist jedes Sprechenden, entspricht der Goldbasis der Währung. Und genau darin liegt die Bedeutung des mittelalterlichen Prinzips: Nicht die Sache soll der Rede unterworfen werden, sondern die Rede der Sache (non sermoni res, sed rei est sermo subiectus). Bezeichnenderweise hat ein grosser Kirchenrechtler des 13. Jahrhunderts, Gottfried von Trani, diese Verbindung in juristischen Begriffen ausgedrückt, indem er die Sprache eine Beschuldigte (lingua rea) nennt, insofern man ihr eine Verbindung zur Sache zuschreiben kann: «Erst die tatsächliche Verbindung des Geistes mit der Sache macht die Sprache tatsächlich zurechenbar (das heisst bedeutungsvoll)» (ream linguam non facit nisi rea mens). Wenn diese bedeutungsvolle Verbindung wegfällt, sagt die Sprache buchstäblich nichts (nihil dicit).
Das Bezeichnete – der Bezug zur Wirklichkeit – garantiert die kommunikative Funktion der Sprache, so wie der Bezug zum Gold die Fähigkeit des Geldes zum Tausch mit allen Dingen gewährleistet. Und die Logik wacht über die Verbindung zwischen Sprache und Welt, wie der Golddevisenstandard über die Verbindung des Geldes mit der Goldbasis gewacht hat.
Einerseits stimmt es, dass Geld in einem sinnvollen System immer auf etwas außerhalb der Sphäre des Geldes bezogen sein sollte. Renée Menéndez begründet das folgendermaßen:
Zweistufiges Bankensystem bedeutet, daß ausschließlich die Primärbank, sprich die Zentralbank, Zentralbankgeld emittieren darf (und zwar per Kredit) und somit die Sekundärbanken, sprich die Geschäftsbanken ein Liquiditätsproblem haben. Das ist deswegen erforderlich, weil das Delegationsproblem zwischen Zentralbank und Geschäftsbank, was darin besteht, daß eine Zentralbank die Geschäftsbeziehungen einer Geschäftsbank nur rudimentär kontrollieren kann, dahingehend gelöst werden muß, daß das zur Verfügung gestellte Zahlungsmittel Zentralbankgeld der Standard ist, den eine Geschäftsbank eben NICHT emittieren kann. Das heißt, Geschäftsbanken ökonomisieren Zentralbankgeld, können es aber nicht selbst schaffen.
Was du auf deinem Bankkonto hast, ist folglich kein Geld, sondern eine Geld_forderung._ Erst wenn du es abhebst, hast du echtes Geld in der Hand. Wäre dem nicht so, dann könnte es schließlich keine bank runs geben.
Ihm zufolge hätten wir eigentlich nach dem 15. August 1971 eine globale Währung für den Austausch der Zentralbanken untereinander schaffen müssen (schon John Maynard Keynes hatte die Idee eines Bancor, sein Plan wurde in Bretton Woods aber wegen der globalen Machtverhältnisse zugunsten des Entwurfs von Harry Dexter White mit dem US-Dollar als Reservewährung verworfen), um die Geldschöpfung der Zentralbanken im Zaum halten und größere Ungleichgewichte vermeiden zu können. Menéndez beschreibt das Problem anhand der EZB und deren nationalen Zentralbanken (NZB):
Die Behandlung der Frage, wie das Verhältnis von EZB und NZBen zu strukturieren wäre, folgt gewissermaßen der logischen Analogie aus den Erkenntnissen eines zweistufigen Bankensystems. Die Grundproblem dabei ist wie vorher, daß die zentrale Währungsbehörde (EZB) nicht alleine in der Lage ist die Kontrollaufgaben hinsichtlich der Bonität der Kreditvergabepolitik von NZBen zu überwachen. […]
Ein dreistufiges Bankensystem benötigt daher zwei Geldmedien. Zwischen der EZB und den NZBen müßte das gleiche anreizkompatible Arrangement herrschen, wie es zu Zeiten der Bundesbank im nationalen Kontext existierte. Knapphalten der Geldmenge bedeutet, daß eine Geschäftsbank stets auf die Refinanzierungsmöglichkeiten des Interbankenmarktes zurückgreifen muß, um den Zahlungsverpflichtungen in einem Teilreservesystem nachkommen zu können. Dieser Zwang bewirkt eine Nivellierung der Bonitätsnormen, wobei die Bank mit der höchsten Bonität den Standard setzt, an den sich alle anderen Banken anzupassen haben. Das heißt, daß zwischen der EZB und den NZBen ein separates clearing-System existieren müßte, welches für die NZBen einen Zahlungsmittelstandard definiert, der von den NZBen nicht geschaffen werden kann. (Ich nenne diesen Zahlungsmittelstandard an dieser Stelle mal EUROR!) Die EZB emittiert demnach ein bestimmtes Volumen von EUROR, welches nach üblichen Auktionsverfahren auf die angeschlossenen NZBen aufgeteilt wird. Für die NZB ist das von ihr “ersteigerte” Volumen an EUROR die Bemessungsgrundlage für ihren Kreditvergabespielraum, der sie dazu befähigt an die an sie angeschlossenen Geschäftsbanken Kredite in EURO zu gewähren.
Heisst also, Banken, auch Zentralbanken, sollten nie in der Lage sein, unbegrenzt Zahlungsmittel ohne Bezug zu etwas Begrenztem zu erschaffen. Was dieses Begrenzte allerdings sein soll, darüber gibt es ganz unterschiedliche Vorstellungen. Die gold bugs halten sich an das Altbewährte, nämlich Edelmetall.
Charles Eisenstein schlägt in seinem Buch Die Ökonomie der Verbundenheit etwas anderes vor. Im Kapitel 9 Die Geschichte vom Wert schreibt er:
Die tatsächlichen Beschränkungen für die Banken bei der Geldschöpfung sind ihr Gesamtkapital und ihr Geschick, bereitwillige kreditwürdige Schuldner zu finden – also jene, die entweder über ein nicht zweckgebundenes Einkommenspotential oder über Vermögenswerte als Kreditsicherheiten verfügen. Mit anderen Worten lenken soziale Übereinkünfte die Geldschöpfung. Maßgeblich ist die durch Zinsen verkörperte Forderung, dass Geld zu jenen fließen soll, die in Zukunft mehr Geld daraus machen. Das heutige Geld ist durch Wachstum gedeckt, wie ich darlegen werde. Wenn sich wie jetzt das Wachstum verlangsamt, beginnt das gesamte Finanzgebäude einzustürzen. […]
Wenn sie die desaströsen Konsequenzen der heutigen kreditbasierten Währungen sehen, raten manche Beobachter, doch zu den guten alten Zeiten zurückzukehren, in denen Währungen durch etwas Greifbares, beispielsweise Gold, gedeckt waren. Sie argumentieren, dass eine durch Rohstoffe gedeckte Währung nicht inflationär wäre, und es dann keinen Zwang für endloses Wachstum gäbe. Ich denke, dass manche dieser Befürworter einer “harten Währung” oder “echten Geldes” sich den primitiven Wunsch nach der Rückkehr in einfachere Zeiten, als die Dinge noch das waren, was sie zu sein schienen, zunutze machen. Sie teilen die Welt in zwei Kategorien, das objektiv Wirkliche und das auf Übereinkünften Beruhende, und glauben, dass das Kreditgeld eine Täuschung, eine Lüge sei, die unvermeidlich in jeder Rezession zusammenbrechen müsse. In Wahrheit ist diese Dichotomie selbst eine Illusion, ein Konstrukt, das – wie zum Beispiel auch die Doktrin von der Objektivität in der Physik – tiefere Mythologien widerspiegelt, welche in unserer Zeit genauso am Zusammenbrechen sind.
Der Unterschied zwischen einer ungedeckten und einer gedeckten Währung ist nicht so groß, wie man meinen möchte. Auf den ersten Blick scheinen sie sehr verschieden: Eine gedeckte Währung bezieht ihren Wert aus etwas Realem, während eine ungedeckte Währung nur einen Wert hat, weil Menschen sich darauf geeinigt haben, dass sie einen Wert besitzt. Diese Unterscheidung ist falsch: In beiden Fällen ist das, was dem Geld letztlich seinen Wert verleiht, die Geschichte rund um das Geld: eine Reihe sozialer, kultureller und gesetzlicher Konventionen.
Zunächst bestätigt Eisenstein die Beobachtung von Walter Benjamin und Giorgio Agamben, dass der Kapitalismus eine Religion ohne Inhalt ist:
Die letzten hundert Jahre waren zunehmend eine Zeit des ungedeckten Geldes und eine Ära, in der nichts heilig ist. Wie ich in der Einleitung schrieb, wenn heute irgendetwas heilig ist, dann ist es das Geld selbst. Denn das Geld hat jene Eigenschaften, die wir mit der körperlosen dualistischen Gottheit verbinden: Allgegenwart, Abstraktheit, Immaterialität – und trotzdem die Fähigkeit, materielle Abläufe zu beeinflussen, zu schaffen oder zu zerstören. Allem Materiellen komplett die Göttlichkeit abzusprechen, bedeutet wiederum, nichts für heilig zu halten – nichts Reales, nichts Greifbares. Aber die Abwesenheit des Heiligen ist eine Illusion: Wie viele feststellten, ist die Wissenschaft zur neuen Religion geworden. Ihre Erzählung von der Entstehung des Weltalls, ihre geheimnisvollen Erklärungen, wie die Welt funktioniert, formuliert in einer undurchsichtigen Sprache, mit ihren Priestern und deren Exegeten, ihrer Hierarchie, ihren Initiationsritualen (der Verteidigung der Dissertation zum Beispiel), ihrem Wertesystem und vielem mehr. Genauso ist es eine Illusion zu glauben, dass das Geld nicht gedeckt ist. Kreditgeld ist (über ein andere Form von sozialer Übefreinkunft als explizit gedeckte Währungen, aber trotzdem über eine Übereinkunft) durch die Gesamtheit der Waren und Leistungen in einer Wirtschaft und letztlich durch das Wachstum gedeckt.
Statt zurück zur Golddeckung will der Charles aber woanders hin, & da bin ich ganz bei ihm:
Dieses Buch wird einen konkreten Weg beschreiben, wie Geld mit den Dingen gedeckt werden kann, die für uns heute heilig werden. Und welche sind das? Wir können sie anhand der altruistischen Bemühungen von Menschen erkennen, die sie erschaffen und bewahren. Das Geld der Zukunft wird durch Dinge gedeckt sein, die wir nähren, erschaffen und bewahren wollen: durch unberührtes Land, sauberes Wasser, reine Luft, großartige Kunstwerke und Architektur, ungenutzte Emissionszertifikate, nicht eingeforderte Lizenzgebühren für Patente, Beziehungen, die nicht in Dienstleistungen umgewandelt wurden, und natürliche Rohstoffe, die nicht in Waren umgewandelt wurden; ja sogar durch Gold, das noch im Boden lagert.
Konkret könnten die Sonderziehungsrechte des IWF, die bereits eine globale Reservewährung sind, in so etwas umgewandelt werden. Zu Eisensteins Geldideen siehe auch Globales Projekt 2018: Ein lebensförderndes Anreizsystem.
Zum Schluss strapaziert Agamben noch mein bisheriges Verständnis des Wortes Anarchie. Darunter hatte ich bisher ganz klar Herrschaftsfreiheit verstanden, aber die griechische Wurzel archē bedeutet Anfang, Prinzip, Ursprung. Etwas anarchisches hat in diesem Sinne keinen Anfang oder Ursprung, es existiert jenseits der Zeit und für sich.
Als Paradigma der kapitalistischen Anarchie fungiert die Christologie. Zwischen dem vierten und dem sechsten Jahrhundert war die Kirche tief gespalten durch die Kontroverse um den Arianismus, der zusammen mit dem Kaiser das gesamte östliche Christentum gewaltsam einbezog. Das Problem betraf eben den Ursprung, die archē des Sohnes. Arius stimmte mit seinen Widersachern darin überein, dass der Sohn vom Vater gezeugt worden sei und diese Zeugung «vor ewigen Zeiten» stattgefunden habe (pro chronon aiōnion bei Arius; pro pantōn tōn aiōnōn bei Eusebius von Cäsarea). Arius hat sogar sorgfältig präzisiert, der Sohn sei achronos gezeugt worden, ausserhalb der Zeit. Nicht so sehr ein chronologischer Vorrang steht also zur Debatte (die Zeit existiert noch nicht), nicht nur ein Problem der Rangordnung (viele Antiarianer meinen ebenfalls, der Vater sei «grösser» als der Sohn); vielmehr geht es um die Entscheidung, ob der Sohn – also Wort und Tat Gottes – im Vater begründet beziehungsweise wie dieser ohne Ursprung ist, anarchos, also ohne Grund. […]
In der Sicht des Arius ist der Vater zwar absolut anarchisch, der Sohn aber ist im Ursprung (en archē), doch nicht «anarchisch», da er im Vater seinen Grund hat.
Das erscheint mir erst mal logisch, aber die Kirche hatte es bekanntlich noch nie so mit der Logik:
Gegen diese häretische These, die dem Logos einen festen Grund im Vater gibt, bekräftigen die durch Kaiser Constans in Serdica (343) versammelten Bischöfe klar, auch der Sohn sei «anarchisch», und als solcher «herrscht er absolut, anarchisch und unendlich (pantote, anarchos kai ateleutetos) mit dem Vater».
Wie kommt Agamben nun vom Arianismus zum Kapitalismus?
Warum erscheint mir diese Kontroverse, jenseits ihrer byzantinischen Subtilitäten, so wichtig? Weil gilt: Da der Sohn nichts anderes ist als Wort und Tat des Vaters, sogar der Hauptakteur der «Ökonomie» des Heils, das heisst der göttlichen Regierung der Welt, steht der «anarchische», das heisst grundlose Charakter der Sprache, des Handelns und der Regierung in diesem Problem zur Debatte. Der Kapitalismus erbt und säkularisiert den anarchischen Charakter der Christologie und treibt ihn auf die Spitze.
Wenn wir diese ursprünglich anarchische Berufung der Christologie nicht verstehen, können wir weder die spätere historische Entwicklung der christlichen Theologie mit ihrem latenten atheologischen Abgleiten noch die Geschichte der abendländischen Philosophie und Politik mit ihrem Bruch zwischen Ontologie und Praxis, zwischen Sein und Handeln und deren daraus folgende Betonung von Wille und Freiheit verstehen. Christus ist anarchisch – das bedeutet in letzter Instanz, dass im modernen Westen Sprache, Praxis und Wirtschaft keine Grundlage im Sein haben.
Wir verstehen jetzt besser, warum die kapitalistische Religion und die ihr untergeordneten Philosophien so sehr auf Wille und Freiheit angewiesen sind. Freiheit und Wille bedeuten einfach, dass Sein und Handeln, Ontologie und Praxis, die in der klassischen Welt eng miteinander verbunden waren, nun getrennte Wege gehen. Menschliches Handeln ist nicht mehr im Sein begründet: Deshalb ist es frei, das heisst verurteilt zum Zufall und zur Beliebigkeit.
Hier wird es bei Agamben ähnlich abgefahren wie bei Christoph Türcke. Und wie ihr wisst, kann es im Zusammenhang mit Geld durchaus noch viel abgefahrener werden…