Die Wirklichkeit ist Allmende
Dieser Andreas Weber schreibt so schöne Sachen, dass es mir jedes Mal aufs Neue das Herz erwärmt. Heute bin ich von Miki Kashtan kommend wieder bei ihm gelandet. Miki beschreibt in ihrem Text das Fließen des Lebens, und Andreas Weber tut das noch viel ausführlicher & poetischer. In seinem Buch Sein und Teilen lautet eine der Zwischenüberschriften des ersten Kapitels Die Wirklichkeit ist Allmende. Er schreibt dazu
Der Begriff, der diese Perspektive beschreibt, ist die Allmende oder, im heute populären englischen Plural, die Commons. Allmende ist ein Geflecht von Beziehungen, durch die sich Lebendigkeit entfaltet. Allmenden kennzeichnen alle Bereiche des Lebendigen. Ökosysteme sind Allmenden – aber auch ein Großteil der Regeln, denen menschliche Gesellschaften folgen, indem sie allen nützen und alle sie erhalten. Materie und Sinn sind in der Allmende nicht getrennt. Lebendige Teilnehmer bringen einander durch Beziehungen hervor und produzieren damit ihre Identität.
Das liebe ich an ihm, dass er die Allmende, das Gemeinschaffen nicht auf eine bestimmte soziale Organisationsform der Menschen reduziert, sondern sie im großen Geflecht des Lebens erkennt.
In der Allmende ist ein Einzelner so mit dem Ganzen verbunden, dass er sich als dessen Steigerung erfährt. Anders als unser gängiges Weltbild, in dem der einzelne der Welt getrennt gegenübersteht (oder sich die Welt gänzlich einbildet), lässt die Lebensanschauung der Allmende das Äußere (Beziehungen, Materie) und das Innerliche (Empfindungen, Sinn) in einen Tanz treten. Als Allmende zu existieren öffnet den Raum, in dem Qualitäten willkommen sind, die aus uns selbst kommen: Betroffenheit, Bedeutung, Lust, Gefühl.
Diese Philosophie klingt so gänzlich anders als die eines René Descartes mit seinem “cogito ergo sum” (“ich denke, also bin ich”). Weber schreibt weiter:
Die Wirklichkeit ist ein Stoffwechsel von Beziehungen in Gegenseitigkeit. An ihnen nehme ich nicht nur teil, sondern sie machen mich aus. Das gilt für den Körper, aber auch für Gefühle. Diese Gegenseitigkeit erst führt zur Erfahrung von Sinn. Ich habe nicht an Stoffkreisläufen teil, ich bin Stoff dieser Welt. Ich verbinde mich nicht mit anderen, sondern entstehe als Verbindung.
Bei der Vipassana-Meditation habe ich das ganz tief erlebt, dieses Erleben hält auch noch an. Deshalb denke und fühle ich bei dem, was Andreas Weber schreibt, immer wieder laut und deutlich “Ja! Genau!”. <3
Unter der Überschrift Leben als Welt stiften schreibt Weber am Ende des ersten Kapitels:
Was wir sind, entsteht durch das, was wir nicht sind: durch Eindrücke und Berührung, durch einen Austausch mit dem, was Stein ist und Wasser, was Molekül ist und Lichtquant, all dem, was sich in die Energie des Körpers verwandelt. Wir sind Mitglieder einer Allmende der Wahrnehmung, aus der unsere Erfahrung, die eigene Identität und die der Welt erst hervorgehen. Unsere Existenz in einer von Leben erfüllten Ökosphäre ist immer schon Gemeingut, bevor sie Individualität wird. Jedes Individuum ist der Welt zu eigen und zugleich ihr Besitzer, verschwistert mit dem rauen Stein, gefleckt von den Wellen, vom Wind zerzaust, vom Strahlen geschmeichelt.
Wir sind Figuren in einem Ballett aus gegenseitiger Abhängigkeit und gemeinsamer Kreativität. Die Welt gehört uns und zugleich sind wir ihr anheimgegeben. Erst durch diese Gegenseitigkeit ist Erfahrung möglich. Sie stellt die Voraussetzung für die Existenz als lebendes Wesen in einem verflochtenen Ganzen dar. Sich zum Teil dieser Wirklichkeit zu machen, heißt Allmende zu fördern, produktiv an ihr mitzuarbeiten, so zu handeln, dass Lebendigkeit steigt. Wirklich werden heißt, Allmende zu werden. Auf diese Weise können wir uns selbst als Welt betätigen. Sich selbst als Welt zu erleben ist der Kern unserer Erfahrung von Glück. Diese Erfahrung zeigt schließlich ein Letztes: Nämlich dass diese Welt, die wir ja selbst sind, immer auch Innerstes ist, nämlich Unseres, von einer Haut umschlossen, die berührt wird, empfindsamer Eindruck einer anderen, die berührt.
Weil ich so nachhaltig begeistert von diesem Buch bin, verschenke ich es auch.