Mitfühlen und an Bedürfnissen orientieren statt Recht und Gerechtigkeit

Nach langer Pause habe ich wieder bei Miki Kashtan reingeschaut. Ihre Artikelreihe Apart and Together hat inzwischen 10 Teile. Heute beziehe ich mich dabei auf den achten Teil Reengaging with the Full Range of Our Emotions.

Darin geht es darum, sich den schwierigen Gefühlen zuzuwenden. Miki geht davon aus, dass fast die gesamte menschliche Gesellschaft, jedenfalls die so genannte “Zivilisation”, seit Jahrtausenden kollektiv traumatisiert ist. Und diese Traumatisierung vererbt sich von Generation zu Generation weiter. Wie kommen wir da jemals wieder raus?

Miki meint in ihrem Artikel The Power of the Soft Qualities to Transform Patriarchy (& auch sonst), dass der erste Schritt ist, die Schrecken des Patriarchats zu betrauern. Wenn wir versuchen, es zu bekämpfen, haben wir schon verloren, weil das gerade der Modus des Patriarchats ist.

Kommen wir nun zu dem Absatz, der mich zum Bloggen unter dieser Überschrift angeregt hat. Zunächst noch ein anderer Absatz zum Einordnen:

Once accumulation starts, two things become necessary: a way to protect and control the accumulated resources, and a way to justify the dramatic shift from flow based on needs to the state we’ve been in since, where some few have more than they need while the many others struggle to live as the fruit of their labour is funnelled to the few.

Das übersetze ich mal (Danke DeepL):

Sobald die Akkumulation beginnt, werden zwei Dinge notwendig: ein Weg, die akkumulierten Ressourcen zu schützen und zu kontrollieren, und ein Weg, den dramatischen Wechsel von einem auf Bedürfnissen basierenden Fluss zu dem Zustand zu rechtfertigen, in dem wir uns seitdem befinden, in dem einige wenige mehr haben, als sie brauchen, während die vielen anderen darum kämpfen, zu leben, während die Früchte ihrer Arbeit zu den Wenigen fließen.

Zur Rechtfertigung der ungleichen Besitz- und Eigentumsverhältnisse dienen nun gerade Recht und Gerechtigkeit:

My conjecture is that the justifying story for massive inequality is the story that says that those who have more deserve it, as do those who have less. This notion is at the root of many other elements that carry potency to this day: fairness, justice and, later, equality and rights. What unites all of them is that they are not directly related to needs, and thus they constitute part of the tectonic shift from an orientation towards needs, which invites care and collaboration, to an orientation towards concepts, which invites rules and competition. This is how scarcity then leads to separation.

Wieder auf deutsch:

Meine Vermutung ist, dass die Rechtfertigungsgeschichte für massive Ungleichheit die Geschichte ist, die besagt, dass diejenigen, die mehr haben, es verdienen, ebenso wie diejenigen, die weniger haben. Diese Vorstellung ist die Wurzel vieler anderer Elemente, die bis heute wirksam sind: Fairness, Gerechtigkeit und, später, Gleichheit und Rechte. Was sie alle eint, ist, dass sie nicht direkt mit Bedürfnissen zu tun haben und somit Teil der tektonischen Verschiebung von einer Orientierung an Bedürfnissen, die zu Fürsorge und Zusammenarbeit einlädt, zu einer Orientierung an Konzepten, die zu Regeln und Wettbewerb einlädt. So führt Knappheit dann zur Trennung.

Nun habe ich ja gerade im letzten Blogbeitrag unsere Grundrechte hochgehalten als Bollwerk gegen die Willkür des Staates. Dabei bleibe ich auch. Allerdings geht die Sache eben viel tiefer.

Gegen das Konzept von Gerechtigkeit habe ich mich hier im Blog schon klar positioniert.

Und mit den Rechten ist es eben auch so eine Sache. Da habe ich als innerer Anarchist schon lange drüber nachgedacht; aus anarchistischer Sicht sind (Grund-) Rechte eine sehr zweischneidige Angelegenheit. Denn was ist ein Recht? Es benennt einen Anspruch gegenüber anderen Menschen. Wer setzt nun diesen Anspruch durch und wie? Im Zweifelsfall tut das der Staat mit seiner Staatsgewalt. Die Alternative Selbstjustiz ist auch nicht besser.

Das kann’s doch nicht sein. Das ist nicht das Leben, wie Miki es beschreibt:

I can point to patriarchy, I can describe it, and I can speak of qualities that I associate with it. I don’t have a definition.

My primary way of understanding patriarchy is as a fundamental orientation to being and living that is at odds with life. Before saying much more about what this means, I first want to say what I mean by life. When I say ‘life’ here I am referring to something that is nearly beyond words; and I mean it, literally. Neither poetry nor science can give us a true understanding of what life is or where it came from. And yet we are in and of life. And so it was, some time ago, that when a friend asked me how I define life, and despite my disbelief that anyone would ask anyone else this question, the words emerged, effortlessly: ‘Life is the constant rearranging of everything in continual integration of all volitions.’

In this short, unexpected framing, I am attending to three dimensions: form, essenceand purpose. Intuitively and somewhat mystically, form comes first, though not exactly in the sense of time; essence is secondary; and purpose is last. In that sense of primacy that isn’t about time, I would say that the form of life is flow, which I see as the absolute baseline of what life is – what I earlier referred to as ‘constant rearranging of everything’. I would say that the essence of life is togetherness, interdependence or love – what I earlier referred to as ‘continual integration’. It is secondary in that the flow gives rise, so to speak, to entities that then come together. I would finally say that the purpose of life is choice – what I earlier referred to as ‘volition’. Choice as the expression and source of movement. Overall, I find simplicity in thinking of life as being about flow, togetherness and choice.

Übersetzt:

Ich kann auf das Patriarchat hinweisen, ich kann es beschreiben, und ich kann von Eigenschaften sprechen, die ich damit verbinde. Eine Definition habe ich nicht.

Ich verstehe das Patriarchat in erster Linie als eine grundsätzliche Ausrichtung des Seins und des Lebens, die im Widerspruch zum Leben steht. Bevor ich mehr darüber sage, was das bedeutet, möchte ich zuerst sagen, was ich mit Leben meine. Wenn ich hier “Leben” sage, beziehe ich mich auf etwas, das fast jenseits von Worten ist; und ich meine das wörtlich. Weder Poesie noch Wissenschaft können uns ein wahres Verständnis davon geben, was Leben ist oder woher es kommt. Und doch sind wir im und vom Leben. Und so kam es, dass, als mich vor einiger Zeit ein Freund fragte, wie ich das Leben definiere, und trotz meines Unglaubens, dass irgendjemand jemandem diese Frage stellen würde, mühelos die Worte auftauchten: “Leben ist die ständige Neuordnung von allem in kontinuierlicher Integration aller Willensäußerungen.”

In dieser kurzen, unerwarteten Umrahmung kümmere ich mich um drei Dimensionen: Form, Essenz und Zweck. Intuitiv und etwas mystisch kommt die Form zuerst, wenn auch nicht genau im Sinne der Zeit; die Essenz ist zweitrangig; und der Zweck kommt zuletzt. In diesem Sinne des Vorrangs, bei dem es nicht um Zeit geht, würde ich sagen, dass die Form des Lebens der Fluss ist, den ich als die absolute Basis dessen betrachte, was Leben ist - das, was ich zuvor als “ständige Neuordnung von allem” bezeichnet habe. Ich würde sagen, dass die Essenz des Lebens die Zusammengehörigkeit, die gegenseitige Abhängigkeit oder die Liebe ist - was ich zuvor als “ständige Integration” bezeichnet habe. Es ist sekundär, dass der Fluss sozusagen Entitäten hervorbringt, die dann zusammenkommen. Schließlich würde ich sagen, dass der Zweck des Lebens die Wahl ist - das, was ich zuvor als “Wille” bezeichnet habe. Die Wahl als Ausdruck und Quelle der Bewegung. Insgesamt finde ich es einfach, das Leben als Fluss, Zusammengehörigkeit und Wahlmöglichkeit zu betrachten.

Da wollen wir doch wieder hin, zu diesem Fließen des Lebens, oder? Ich will es jedenfalls. Und ich kann es von meiner heutigen Position in der deutschen patriarchal-kapitalistischen Gesellschaft nur vage erahnen. Dabei erahne ich auch gleich, wie viel es zu betrauern gibt.

Übrigens sind wir noch voll im patriarchalen Denken befangen, wenn wir glauben, dass wir das Patriarchat in wenigen Generationen ganz hinter uns lassen könnten. Wilhelm Reich hat dafür mehrere 1000 Jahre veranschlagt, & das erscheint mir auch realistisch.

Von diesem langen & schweren Weg handelt der eingangs erwähnte Artikel Reengaging with the Full Range of Our Emotions. Darin hat Miki auch den schönen und recht kurzen Text Vulnerability as a Spiritual Path (“Verwundbarkeit als spiritueller Pfad”) verlinkt, mit dem ich diesen Beitrag beschließe.

Ach nein, ich ende mit den letzten beiden Sätzen aus Reengaging with the Full Range of Our Emotions:

And we vow to never be alone, to always reach for more support, as well as offer it to others who take similar paths. All of us are free, or none.

Auf deutsch:

Und wir geloben, nie allein zu sein, immer nach mehr Unterstützung zu greifen und sie auch anderen anzubieten, die ähnliche Wege gehen. Wir sind alle frei, oder niemand.

Aho!