Der Wahnsinn des Krieges, hier und heute
Anscheinend prägt mich mein Kriegsenkel-Dasein doch stärker als ich vermutet hatte. In den letzten Monaten, also seit dem Tod meiner Mutter, bin ich viel häufiger krank als in den Jahren davor. Dazu kommen auch immer wieder Körpersymptome, die für mich sehr fremdartig sind. In dieser Zeit habe ich auch mit meinem Wirtschaftsstudium so heftig gerungen wie nie zuvor, mit dem vorläufigen Ergebnis, es als magische Herausforderung zu betrachten. Mein Informatikstudium habe ich seinerzeit ja nach dem Vordiplom abgebrochen. Und nach der Ausbildung bin ich in der Firma nicht geblieben, sondern auf Wanderschaft gegangen.
Im Interview mit Ingrid Meyer-Legrand über Kriegsenkel in der Therapie sagt diese:
Viele stehen beruflich auf der Bremse und kommen einfach nicht in die Gänge. Oder fangen beruflich und privat immer wieder neu an.[…] Die Reflexion gilt insbesondere der eigenen »Ruhelosigkeit«, des »Nicht-Ankommen-Könnens« und der Sehnsucht, endlich seinen eigenen Platz in dieser Gesellschaft bzw. im Leben überhaupt zu finden.
Ich kann nicht leugnen, dass ich mich darin wiederfinde.
Und ich spüre immer wieder, dass ich auch deshalb mit meinem eigenen Ding noch nicht voll durchstarte, weil in meiner Herkunftsfamilie so viel klemmt. Mein Vater hält meine Schwester für bösartig, sie wiederum redet nicht mehr mit ihm, weil sie ihm vorwirft, sich für völlig unschuldig zu halten. Kurz: Mitten in meiner Familie herrscht Krieg, zwar ohne Waffen und körperliche Gewalt, dafür mit fiesen psychischen Verstrickungen. Und das Ganze noch inmitten der Sachzwänge unserer Gesellschaft, sich als isoliertes Einzelwesen seinen Lebensunterhalt verdienen zu müssen. Es fällt daher sehr leicht zu sagen, das wäre zwar eigentlich sehr wichtig sich damit zu beschäftigen, ich habe aber einfach keine Zeit dafür.
Dass ich bei Prozessarbeit und Worldwork gelandet bin, ist da ganz folgerichtig. Das sind Werkzeuge für die in meinen Augen größte und wichtigste Baustelle, die wir als Menschheit gerade haben. Und nicht erst seit kurzem, sondern das menschliche Zusammenleben ist schon seit Jahrtausenden problematisch.
Aus dem Interview geht auch hervor, dass von den Kriegskindern gerade mal ein Drittel nicht traumatisiert wurde. Mich hat das ganz schön getroffen. Dass es sehr viele sind, war mir schon klar gewesen, aber dass zwei Drittel einer ganzen Generation traumatisiert sind, boah, das ist schon Wahnsinn. Und davor gab es ja noch den Ersten Weltkrieg und viele viele andere Kriege davor. Im Grunde hatten die Menschen in Europa höchstens mal ein paar Jahre Verschnaufpause bis zum nächsten Krieg. Einzelne Kriege dauerten bis zu hundert Jahre oder noch länger.
Wenn ich mir das so klar mache, dann wundert es mich nicht, dass es mich immer wieder scheinbar aus heiterem Himmel aus der Bahn wirft. Und dass ich angesichts von Hartz IV, PEGIDA, dem Treiben der Geheimdienste, dem Geschehen in der Ukraine, Gaza oder IS manchmal verzweifle.
Dass ich nicht dauerhaft verzweifle, liegt daran, dass ich Arnold Mindells
Vision von einer Welt, die eine Heimat ist, von einer Welt, die aufregender ist als Krieg und sicherer und herausfordernder als Frieden
teile. Das schreibt er in seinem Buch Der Weg durch den Sturm.
Wir brauchen eine Weltarbeit, die unsere Kenntnisse aus der Psychologie, den Naturwissenschaften und den spirituellen Traditionen einsetzt, aber nicht auf diese beschränkt bleibt. Wir müssen einen neuen Beruf entwickeln, dessen Angehörige sowohl mit großen Gruppen wie mit Individuen daran arbeiten, eine sinnvollere und aufregendere Welt zu erschaffen. Unser neuer Beruf muss diejenigen Berufe zusammenbringen, welche es auf diesem Gebiet schon gibt, um auf nützliche Weise mit der Umwelt und dem physikalischen Universum zu interagieren und von den Geistern der Zeiten, in denen wir leben, zu profitieren.
An manchen Tagen, so wie heute, kapituliere ich trotz der Schönheit dieser Vision vor den gerade herrschenden Zuständen, im Großen wie im Kleinen. Immerhin, dank Bewusstseinserweiterung identifiziere ich mich nicht mit der Verzweiflung, sondern erlebe sie als etwas, das kommt und wieder geht.
Nachtrag: Beim Lesen dieses Berichts eines Kriegsenkels über seine ostpreußische Familie fließen wieder Tränen. Es gibt so viele von uns, und die meisten davon ganz versteckt (auch vor sich selbst). Und dann eben auch die andere Seite: 27 Millionen Tote als Opfer des deutschen Russlandfeldzuges.