Das Hamsterrad steht still
Gestern erst ist der (bevorstehende) Shutdown überhaupt in meinem Körper angekommen. Mein Nervensystem hat sich total runtergefahren, weil es gemerkt hat, dass das Hamsterrad endlich still steht.
Damit bin ich nun voll angekommen, sogar mehr noch als nach 10 Tagen Vipassana. Und es brauchte dazu gar keine rigorose Praxis des Meditierens. Es genügte einfach das Bewusstsein, dass, was immer ich heute zu tun habe, ich auch morgen oder in zwei Wochen noch tun kann. Wir haben unser Institut erst mal für 2 Wochen geschlossen.
Es gibt nichts Dringendes zu tun. Seit gestern bin ich überhaupt nicht mehr besorgt, weder wegen des Virus noch wegen unserer Demokratie. Die Megamaschine wird bald stillstehen. Die lang ersehnte Verschnaufpause ist da.
Gestern habe ich auch mein erstes Meme erzeugt, das diesen Sachverhalt auf den Punkt bringt:
Ja, mir ist bewusst, dass ich mit meinem finanziellen Rang da leicht reden habe.
Und mir ist auch bewusst, dass andere jetzt bis zum Umfallen arbeiten, nämlich alle Menschen im Gesundheitssystem. Deshalb danke ich euch an dieser Stelle von ganzem Herzen, ebenso allen, die in der Landwirtschaft und der Lebensmittelversorgung arbeiten, im Wasserwerk, bei der Müllabfuhr usw. usf. Das sind die Menschen, die von allen die höchsten Gehälter bekommen sollten, denn sie sorgen für das, worauf es wirklich ankommt. Und zwar nicht nur in einer Krise, sondern auch wenn alles normal läuft.
Das ist die Chance, die uns SARS-CoV-2 beschert hat: Wir erleben gerade, was wir alles auf unbestimmte Zeit sein lassen können, ohne dass alles zusammenbricht. Und wir erleben um so deutlicher, worauf es wirklich ankommt.
Dir Corona-Krise ist mithin die Gelegenheit, unsere Wirtschaft von einer konkurrenzbasierten Marktwirtschaft auf eine Care-Wirtschaft umzustellen.
Jetzt ist die Zeit für Solidarität mit allen Wesen auf der Erde. Dazu gehört auch, die Menschheit neu zu denken.
Ja, lasst uns diese Virus-induzierte Zwangspause dafür nutzen, grundlegend alles zu überdenken, was wir bisher für gut & richtig gehalten haben. Otto Scharmer hat das in einem wunderbaren Artikel auch beschrieben, Eight Emerging Lessons: From Coronavirus to Climate Action.
Im Moment haben wir viel Zeit dafür, den tiefer liegenden Ursachen der Coronakrise auf den Grund zu gehen. Folgt man dem Evolutionsbiologen Rob Wallace, dann ist eine zentrale Ursache die industrielle Landwirtschaft:
Der Planet Erde ist heute weitgehend eine einzige große industrielle Agrarfabrik, sowohl in Bezug auf die Biomasse, als auch die Landnutzung. Die Agrarindustrie versucht, den Lebensmittelmarkt zu beherrschen. Das neoliberale Projekt ist darauf ausgerichtet, Unternehmen aus den entwickelteren Industrieländern dabei zu unterstützen, Land und Ressourcen schwächerer Länder zu stehlen. Als Folge dessen werden viele dieser neuen Krankheitserreger, die zuvor in den über lange Zeiträume entstandenen Waldökosystemen gebunden waren, freigesetzt und bedrohen die ganze Welt.[…]
Die nach kapitalistischen Bedürfnissen organisierte Landwirtschaft, die an die Stelle der natürlichen Ökologie tritt, bietet genau die Mittel, durch die ein Krankheitserreger die gefährlichste und ansteckendste Erscheinungsform entwickeln kann. Ein besseres System zur Züchtung tödlicher Krankheiten lässt sich kaum entwickeln.
Wallace hatte ich ja schon ausführlicher in meinem Corona-Sammelbeitrag zitiert.
Ich will hier nicht schon zu viele mögliche Antworten nennen. Lassen wir uns erst mal gemeinsam auf die großen Fragen ein.
Haben wir uns zu viel vorgenommen?
Jetzt ist die Chance für die Rekultivierung unseres Lebens.
Die Frage nach der Technik führt in dieser Perspektive weit über technische Fragen hinaus. Es geht darum, unsere ökonomischen Praktiken und unsere sozialen Institutionen, die in den letzten Jahrhunderten aus ihren kulturellen Zusammenhängen herausgelöst wurden, zu rekultivieren. Das gesamte gesellschaftliche Leben als Kultur zu begreifen (und nicht nur den kleinen Bereich abendlicher Konzert- oder Theaterbesuche) bedeutet, Arbeit als eine kulturelle Handlung wiederzuentdecken, die nicht nur Dinge herstellt, sondern auch Beziehungen und Sinn stiftet; das heißt auch, Bildung als etwas zu begreifen, das die Entfaltung der ganzen Persönlichkeit zum Inhalt hat – und nicht die Reduktion des Menschen auf einen möglichst reibungslos funktionierenden Teil im Wirtschaftsgetriebe. Es gibt eigentlich keinen Bereich unseres Lebens, der eine Rekultivierung nicht bitter nötig hätte. Die Qualität der anderen Welten, die wir vielleicht schaffen können, wird sich nicht nur daran zeigen, ob sie ökologisch nachhaltig und sozial gerecht sind, sondern auch daran, welche Feste wir feiern und welche Lieder wir singen.
Nachtrag: Passendes Interview mit dem Historiker Rutger Bregman – «Das Wichtigste ist: Nicht nur das Virus ist ansteckend, sondern auch dein Verhalten».
Historiker haben vielfach gezeigt, dass Krisen auch gesellschaftliche Wendepunkte sein können. Oft sind das die Momente, in denen Wandel geschieht. Es ist, als befänden wir uns gegenwärtig in einem Historienfilm; und es ist noch zu früh für eine Prognose, aber ich hoffe, dass dieser Moment ein Wendepunkt sein und das Ende dessen markieren wird, was man das neoliberale Zeitalter nennen könnte, in dem wir vor allem auf Wettbewerb und Individualismus gepolt sind. Vielleicht können wir in ein neues Zeitalter der Kooperation eintreten, auf der Grundlage eines positiveren Menschenbildes. Wie ich in meinem Buch schreibe: Was Sie anderen Menschen unterstellen, ist oft auch das, was Sie von ihnen bekommen. Wenn man davon ausgeht, dass die meisten Leute nur an ihren Eigennutz denken, dann errichtet man auch die eigene Gesellschaft gemäss diesem Prinzip: alle Institutionen, Schulen, Arbeitsplätze, die Demokratie, was auch immer Sie wollen. Aber wenn wir umgekehrt Institutionen auf der Vorstellung aufbauen würden, dass Menschen zwar keine Engel, aber letztlich ziemlich anständig sind, dann bekämen wir eine ziemlich andere und wohl auch bessere Gesellschaft.
Nachtrag vom 20.03.: Zukunftsforscher Matthias Horx hat eine “Re-Gnose” zur Coronakrise geschrieben, einen Rückblick aus der Zukunft – 48 – Die Welt nach Corona.
Aber wir haben auch erfahren: Nicht so sehr die Technik, sondern die Veränderung sozialer Verhaltensformen war das Entscheidende. Dass Menschen trotz radikaler Einschränkungen solidarisch und konstruktiv bleiben konnten, gab den Ausschlag. Die human-soziale Intelligenz hat geholfen. Die vielgepriesene Künstliche Intelligenz, die ja bekanntlich alles lösen kann, hat dagegen in Sachen Corona nur begrenzt gewirkt.
Damit hat sich das Verhältnis zwischen Technologie und Kultur verschoben. Vor der Krise schien Technologie das Allheilmittel, Träger aller Utopien. Kein Mensch – oder nur noch wenige Hartgesottene – glauben heute noch an die große digitale Erlösung. Der große Technik-Hype ist vorbei. Wir richten unsere Aufmerksamkeiten wieder mehr auf die humanen Fragen: Was ist der Mensch? Was sind wir füreinander?
Der Text ist wirklich toll zu lesen, deshalb nur noch eine zweite Kostprobe:
Wir werden uns wundern, dass sogar die Vermögensverluste durch den Börseneinbruch nicht so schmerzen, wie es sich am Anfang anfühlte. In der neuen Welt spielt Vermögen plötzlich nicht mehr die entscheidende Rolle. Wichtiger sind gute Nachbarn und ein blühender Gemüsegarten.
Könnte es sein, dass das Virus unser Leben in eine Richtung geändert hat, in die es sich sowieso verändern wollte?
Nachtrag vom 24.03.: So sieht das aus, wenn das Hamsterrad in der Bankenmetropole Frankfurt am Main stillsteht:
Nachtrag vom 25.03.: Auch Yuval Noah Harari stellt in seinem ausführlichen Artikel In der Corona-Krise stellen wir die Weichen für die Zukunft: Wir müssen den Totalitarismus bekämpfen und den Bürgersinn stärken große Fragen:
Die Menschheit muss eine Entscheidung treffen. Gehen wir den Weg der Zwietracht oder wählen wir den Pfad der globalen Solidarität? Wenn wir uns für die Zwietracht entscheiden, verlängern wir nicht nur diese Krise, sondern verursachen in Zukunft wohl noch weit schrecklichere Katastrophen. Wenn wir uns aber für die globale Solidarität entscheiden, trägt uns das nicht nur den Sieg gegen das Virus ein, sondern gegen alle Epidemien und Krisen, die die Menschheit im 21. Jahrhundert treffen können.
Nachtrag vom 28.03.: Ich hatte ihn schon sehnlichst erwartet, nun hat Charles Eisenstein einen Essay geschrieben mit dem vielversprechenden Titel The Coronation.
Covid-19 is like a rehab intervention that breaks the addictive hold of normality. To interrupt a habit is to make it visible; it is to turn it from a compulsion to a choice. When the crisis subsides, we might have occasion to ask whether we want to return to normal, or whether there might be something we’ve seen during this break in the routines that we want to bring into the future. We might ask, after so many have lost their jobs, whether all of them are the jobs the world most needs, and whether our labor and creativity would be better applied elsewhere. We might ask, having done without it for a while, whether we really need so much air travel, Disneyworld vacations, or trade shows. What parts of the economy will we want to restore, and what parts might we choose to let go of? And on a darker note, what among the things that are being taken away right now – civil liberties, freedom of assembly, sovereignty over our bodies, in-person gatherings, hugs, handshakes, and public life – might we need to exert intentional political and personal will to restore?
Und Matthias Horx hat eine ganze Website gestartet, Die Zukunft nach Corona.
Nachtrag vom 29.03.: Nutzen wir doch die Verschnaufpause, um mal abzuwägen, was wir alles auf dem Komposthaufen der Geschichte entsorgen und als Nährboden für Neues verwenden wollen.
Nachtrag vom 03.04.: Oliver Nachtwey sagt im Interview mit der Republik schöne, tiefgreifende Sachen. Besonders interessant finde ich das dort verlinkte Buch Vogelgrippe – Zur gesellschaftlichen Produktion von Epidemien des amerikanischen Soziologen Mike Davis, der in die gleiche Kerbe haut wie Rob Wallace.
Nachtrag vom 05.04.: Im Beitrag Vom Virus hypnotisiert vertiefe ich das, was ich hier angefangen habe.
Nachtrag vom 08.04.: Nun ist endlich die deutsche Übersetzung von Charles Eisensteins großartigem Essay erschienen: Die Krönung. Und Bruno Latour stellt Fragen für eine umfassende Bestandsaufnahme, wie wir nach der Krise leben wollen.
Nachtrag vom 15.04.: Miki Kashtan hat eine Artikelreihe über die Coronakrise angefangen. Sie betont auch, dass der Ausnahmezustand große Chancen für grundlegende Veränderungen birgt:
during times of crisis, scripts don’t work and habits are challenged. At such times we are pushed to respond freshly in the moment, from deeper layers of ourselves than those conditioned by the social order. Jolted out of autopilot, the future becomes even less known. Suddenly, deeper patterns become visible, taboo topics open up, and actions that might have seemed impossible are now commonplace. There is a very real possibility that at least in some parts of the globe, the immediate response to the current conditions will reflect a move toward honoring life, interdependence, and needs, even as the risk of increased totalitarianism is present.
Sie findet wahrhaftig starke Worte:
Overall, I see this crisis as the first opportunity in at least centuries, if not millennia, to change course, precisely because the entire machinery that keeps it all going is ground to a halt, on a global scale. This pandemic is inviting us to abandon the disastrous path of scarcity, separation, and powerlessness focused on controlling life and death. We have an unprecedented opportunity to reconnect with life as we celebrate its messy preciousness and surrender in full to death as part of life. We can find, again, flow, togetherness, and choice as we accept our interconnectedness with each other and with all that lives. Just as the anonymous biblical author reminds us: We have been given the choice between life and death, and we can choose life.
Nachtrag vom 18.04.: Schon am 24. März hat jemand Ayahuasca zum Coronavirus befragt und faszinierende Antworten bekommen.