Gemeinschaft - mir persönlich Notwendiges sowie Wünschenswertes

Angeregt durch Markus Rüegg habe ich heute eine Liste meiner persönlicher Anforderungen an eine Gemeinschaft, in der ich dauerhaft leben würde, aufgeschrieben. Hier ist sie:

  1. Vertrauen: Menschen können nur dann gut gemeinsam leben, wenn sie einander vertrauen. Dieses Vertrauen wächst mit der Zeit; allerdings nur wenn die Menschen einander vertrauen wollen. In einem Vertrauensfeld ist unheimlich viel möglich - abstrakte Prinzipien wie Anarchismus, Konsens, Hierarchiefreiheit o.ä. müssen nicht starr eingehalten werden, die Menschen gehen flexibel mit der jeweils aktuellen Situation um. “Die Gedanken der Mitarbeiter sind die stärkste Realität im Unternehmen”, schreibt Wolfgang Berger. Das gilt ebenso in Gemeinschaften.
1. **Die Gemeinschaft ist für die Menschen da & nicht umgekehrt.** Weil das so ist, weil jedeR Einzelne zählt, geht es oft langsamer voran als wenn alle an einem Strang ziehen. Doch wenn jemand _[gezwungen](/-herrschaftszeiten)_ wird am selben Strang zu ziehen (was auf sehr subtile Weise geschehen kann), entstehen Missstimmungen & untergründige Gegenströmungen, die eine Gemeinschaft auseinanderreissen können.

Das Konsensprinzip in seiner tiefen, nicht bloss formalen Bedeutung ermöglicht langfristig tragfähige Gemeinschaft zwischen Menschen. Am treffendsten formuliert es Arnold Mindell in seinem Buch Der Weg durch den Sturm:
Die Haltung der tiefen Demokratie, welche unerschütterlich an die Wichtigkeit aller Teile eines Ganzen glaubt, an die Bedeutung aller unserer Persönlichkeitsteile und aller verschiedenen Sichtweisen in der Welt um uns herum. Noch anders formuliert halte ich es für essenziell wichtig, die Schatten aller Art anzuerkennen, denn sie alle haben uns Wichtiges mitzuteilen. 2. Die Menschen in der Gemeinschaft nehmen sich selbst nicht allzu ernst & wichtig. Ich bin einer von gut sechs Milliarden Menschen & darüber hinaus eingebettet in ein Ganzes, das zunächst einmal diese Erde ist & auch darüber weit hinausreicht. Ein Blick in den nächtlichen Sternenhimmel rückt mir immer wieder die Perspektive zurecht, welche Rolle ich in diesem Spiel namens Leben eigentlich spiele: Ich bin auf diesen Planeten gekommen um das Leben zu erfahren. Gut & Böse, Falsch & Richtig, Wichtig & Unwichtig verblassen vor diesem Hintergrund. Zugleich fällt so manche Last des Mich-ach-so-wichtig-Nehmens von mir ab. 3. Damit das Vertrauen untereinander wächst, gehen die Menschen in der Gemeinschaft ehrlich & offen miteinander um. Wenn dies in der Hitze des Gefechts nicht gelingt, sind sie bereit, im Nachhinein auf die Situation zu schauen. Gemeinschaft kann auf Dauer nur bestehen, wenn die einzelnen Menschen bereit sind, sich mit ihren Ängsten, mit Wut, Trauer, Schuld & anderen “negativen” Gefühlen zu konfrontieren. Damit niemand dabei in ein schwarzes Loch fällt, ist ein grundlegendes Wohlwollen gegenüber allen Menschen in der Gemeinschaft erforderlich: Niemand will mir hier etwas Böses. Ob ich mich von jemandem verletzen lasse oder nicht, ist letzten Endes immer meine Sache. 4. Liebe & Sexualität / Polyamorie: Liebesbeziehungen zu anderen Menschen (wobei mir das Wort “Beziehung” nicht gefällt, in Ermangelung eines besseren verwende ich es dennoch) spielen wohl eine zentrale Rolle im Leben eines jeden Menschen. Ich schreibe das bewusst so allgemein, weil ich über das heteronorme Geschlechterbild unserer patriarchalen Gesellschaft hinaus will. In der bürgerlichen Gesellschaft werden diese Themen als Privatangelegenheit betrachtet; man spricht nicht darüber. Das funktioniert schon in der typischen kleinfamiliären Struktur nicht, die ich als viel zu eng erlebe. Aus emotionaler Verstrickung heraus verschärfen sich Konflikte unnötig, bleiben Bedürfnisse unbefriedigt, wachsen Scham- & Schuldgefühle. Das alles ist nicht gesund; das wusste schon Freud. In Gemeinschaft ist es einerseits kaum möglich, Beziehungsprobleme zu verstecken & als privat zu deklarieren. Wer das tut, sorgt damit für weiter gehende Unstimmigkeiten in der Gemeinschaft. Andererseits ist eine grössere Gemeinschaft von Menschen, die einander wohlgesonnen & vertraut sind, ein guter Rahmen um sich Verletzungen in der Liebesbeziehung anzuschauen. Dies kann in einer grösseren Runde geschehen oder auch im Zwiegespräch mit einzelnen FreundInnen aus der Gemeinschaft. So richtig heiss wird es, wenn jemand sich zu mehreren Menschen (am besten noch aus der Gemeinschaft) hingezogen fühlt. Polyamorie ist hier das Stichwort. Ich empfehle als Richtschnur den wirklich von Herzen geschriebenen Text poly for dummies. Wenn diese Gefühle, diese Zuneigung sein darf, unabhängig davon was zwischen den Menschen dann passiert, entstehen keine neuen Schuldgefühle & Verletzungen, die mit dem Begriff “Fremdgehen” automatisch verbunden sind. Ebenso wichtig ist mir die Offenheit gegenüber sexuellen Vorlieben. Ich möchte das Gefühl haben, nicht gleich verurteilt zu werden, wenn ich jenseits von Blümchensex Lust erlebe & dies den anderen mitteile. Erst dann werde ich diese Vorlieben nämlich mitteilen, erst dann ist ein offenes Gespräch darüber möglich. & in diesem offenen Austausch kann dann wieder ganz viel Vertrauen wachsen. Die Sexualität ist - neben dem Geld (siehe Punkt 3) - der Bereich, in dem das Patriarchat besonders viel Angst & Misstrauen gesät hat. 5. Spirituelle Praxis: Vertrauen rührt daraus, dass mensch verankert ist im Ganzen. Mir persönlich ist es nicht wichtig, einen bestimmten spirituellen Weg regelmässig im rituellen Rahmen zu üben. Mir ist der gemeinsame Alltag mit anderen Menschen das beste Übungsfeld. Es sollte jedeR in der Gemeinschaft den Raum finden, ihren/seinen spirituellen Weg zu gehen.

  1. Alle Generationen leben zusammen. “Kinder sind unsere Zukuft” heisst es oft. Das bedeutet, so wie wir unsere Kinder behandeln, so entwickelt sich unsere Zukunft. Wie gehen die Erwachsenen mit Kindern um? Das ist die Gretchenfrage jeder Gesellschaft. Eng verwandt damit: Wie behandelt eine Gesellschaft ihre alten Menschen? Bei uns in Deutschland werden Kinder gegängelt, in Schulen gezwungen (notfalls mit Polizeigewalt), die alten Menschen werden aufs Abstellgleis geschoben, sie werden ja nicht mehr gebraucht. Wenn Menschen eine Gemeinschaft gründen, um anders zu leben als der gesellschaftliche Standard, dann gehört für mich unbedingt dazu, dass sich alle Generationen gegenseitig respektieren. Kinder sind freie Wesen, die wir Erwachsenen in ihrer Entwicklung unterstützen. Alte Menschen haben aus der Erfahrung ihres langen Lebens viel zu teilen, was immer es sein mag. Alle Menschen, ob jung oder alt, arm oder reich, gesund oder krank, können dem Ganzen etwas geben, & sie wollen das auch. Niemand ist überflüssig in dieser Welt, & stören tut nun schon gar niemand.
1. [Ich erlebe Kinder als spirituelle Lehrer](/-spielen), die noch ganz nah an der Quelle unserer Kraft leben, sich dieser magischen Welt noch nicht verschlossen haben. Ich wünsche mir, dass die Erwachsenen in der Gemeinschaft sich darauf einlassen & gemeinsam mit den Kindern wachsen. Das erlebe ich als _den_ Turbo für meine spirituelle Entwicklung.
2. **Alternativen zur Regelschule:** im staatlichen Schulsystem können Kinder nicht [frei aufwachsen](/-freies-kinderaufwachsen-ii). Ausserdem ist Gemeinschaft der ideale Rahmen dafür. Es sollte also entweder eine [Freie Schule](/-sudbury-schule-halleleipzig) o.ä. in der Nähe vorhanden sein, oder die Gemeinschaft baut sie selber mit auf.
  1. Gemeinsame Ökonomie. Gemeinsames Wirtschaften setzt starke Synergieeffekte frei & fördert gemeinschaftliches Denken. Allerdings ist in der Anfangsphase mit vielen inneren & äusseren Konflikten zu rechnen, da wir alle in einer Privateigentums-Gesellschaft sozialisiert wurden. Genau diese Auseinandersetzungen sind für mich ein wesentlicher Beitrag, den Gemeinschaften für eine andere, solidarische Welt leisten können. Denn die Themen, die dabei auf den Tisch kommen, bewegen uns mehr oder weniger alle; & die Ängste & Begierden, die dabei angetickt werden, halten die Maschinerie des kapitalistischen Wirtschaftssystems am Laufen. Ich träume von einer Gemeinschaft, in der das gemeinsame solidarische Wirtschaften wirklich funktioniert. Ein echtes Gegenmodell zu Privateigentum & Konkurrenz. Bei gemeinsamer Ökonomie fällt der meiste Verwaltungsaufwand einfach weg, & ganz entgegen Lenins Ausspruch ersetzt die Gemeinschaft Kontrolle durch Vertrauen & Transparenz.
1. **[Bedürfnisprinzip](http://www.nadir.org/nadir/initiativ/bs/texte/subsist.htm).**

Dieses Prinzip, das schon Marx & Engels für den Kommunismus formulierten: “Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen”, macht wohl den grössten Unterschied zu unserem althergebrachten kapitalistischen Wirtschaftsbegriff aus. In diesem herrscht nämlich das Leistungsprinzip: Wieviel jemand von der Gesellschaft zugesprochen bekommt, hängt in der Theorie davon ab, wieviel mensch leistet. Konsequent angewandt wird diese Prinzip allerdings nur auf die armen Bevölkerungsschichten. Familie Oetker beispielsweise kann gar nicht so viel arbeiten wie sie Kapitaleinnahmen hat, würde der gleiche Maßstab angewendet wie bei einem 400 EUR-Aushilfsjob. Aber ich schweife ab… Zu gemeinsamer Ökonomie gehört (für mich) auf jeden Fall, dass es keine abstrakten Gleichheits-Forderungen gibt, die unterschiedliche Menschen über einen Kamm scheren. In diesem Zusammenhang ist es essenziell wichtig, zwischen Ungleichheit & Unterschiedlichkeit zu unterscheiden. Jeder Mensch ist anders (=unterschiedlich) als alle anderen, zugleich hat in einer Gemeinschaft mit dem Anspruch, linke Politik in die Tat umzusetzen, jedeR das gleiche Recht, die gemeinsamen Regeln zu beeinflussen. Unterschiedlichkeit anerkennen, Ungleichheit abbauen lautet also das Motto nicht nur für gemeinsames Wirtschaften. Das ist ein weites Feld für alle Menschen in der Gemeinschaft, an dem sie persönlich & spirituell wachsen können. Wie weit kann/darf/soll ich die anderen so lassen wie sie sind, wo ist es angemessen sie daran zu hindern, welche Bedürfnisse sind “echt”, welche sind Ersatzbefriedigung? Wo bin ich selber bloss neidisch? 2. Kein Unterschied zwischen Reproduktions- & Erwerbsarbeit: Weil alle gemeinsam wirtschaften, zählt Putzen, Kochen, Kinder beaufsichtigen genau so viel wie Tischlern, Webdesign oder Klangmassage. Das eine geht nicht ohne das andere. Dabei sehe ich natürlich das gesellschaftliche Umfeld: Um Geld zu erwirtschaften, muss die Gemeinschaft nach aussen hin tätig werden, & dafür eignen sich die letztgenannten Arbeiten besser als Hausarbeit. & die gemeinschaftsinternen Arbeiten bringen der Gemeinschaft ohnehin kein Geld ein, weil niemand ausserhalb einen direkten Nutzen davon hat. An diesem Punkt das Bewusstsein zu erweitern & nicht nur nach dem direkten persönlichen Nutzen zu fragen sondern das Ganze in den Blick zu bekommen, ist eine auch politische Aufgabe von Kommunen. 3. Gemeinsame Arbeitsbereiche. Gemeinsames Wirtschaften bedeutet natürlich auch Gemeinsames Arbeiten. Es geht nicht mehr jedeR individuell “jobben” um das eigene, private Geld für das ganz persönliche Leben zu erarbeiten. Zusammen arbeiten verbindet ungemein. Das erleben die meisten Gemeinschaften in der Anfangs- & Aufbauzeit, doch ohne gemeinsame Arbeitsbereiche löst sich dieses Verbindende schnell wieder auf, wenn dann doch alle wieder ihr eigenes Ding machen. In einer gemeinsamen Ökonomie überwiegt das Gefühl, an einem Strang zu ziehen oder auch in einem Boot zu sitzen. Der Gefahr, dass das zu einem Zwang wird, kann nur durch persönliche Offenheit & entsprechenden sozialen Instrumenten (wie Forum, Radikale Therapie, Sprechrunden u.ä.) begegnet werden. Das (auch, aber nicht nur) ökonomische Potenzial solidarischen Wirtschaftens beschreiben auch Gunnar Heinsohn & Otto Steiger (siehe Meilensteine der Wirtschaftswissenschaft). 4. Das Recht auf Faulheit gehört an sich zum Bedürfnisprinzip, ich erwähne es dennoch als gesonderten Punkt, weil ich es für zentral halte. Mensch entscheidet sich ja für gemeinsames Wirtschaften, um damit einen alternativen Lebensentwurf zu leben, dessen letztendliches Ziel ist, dass es einem gut dabei geht. Die Gefahr des “Hamsterrads” (wie Markus Rüegg es nennt) läuft dem zuwider: Viele Gemeinschaften überfordern sich wirtschaftlich & erzeugen damit einen Zwang zu arbeiten, damit das Projekt überhaupt am Leben bleibt. Das kann’s ja wohl nicht sein. Zu meiner Vision der Fülle gehört, dass ich auch mal ausspannen kann (& darf!), wenn mir danach ist.

  1. Die Menschen in der Gemeinschaft sind sich darüber im Klaren, dass sie auch Teil einer Organisation sind und in dieser unterschiedliche, z.T. wechselnde Rollen einnehmen. Neben den Gedanken, Gefühlen und Visionen der einzelnen Menschen in der Gemeinschaft gibt es auch einen Geist der Organisation, der etwas anderes ist als die Summe der einzelnen Visionen und Vorstellungen von der Gemeinschaft. Und dieses größere Ganze dient der Welt. 1. In der Gemeinschaft/Organisation haben Konflikte bzw. Störungen immer Vorrang vor den Routinen. Idealerweise werden Störungen als nützliche Hinweise genommen, wo etwas zu verändern ist (siehe Holacracy). 2. Die Menschen in der Gemeinschaft wissen um den Wert externer Supervision, um die blinden Flecken der Gemeinschaft in den Blick zu bekommen, und die Gemeinschaft nutzt eine solche Supervision (in welcher Form auch immer) regelmäßig. Idealerweise existiert auch das Amt des Gemeinschaftsnarren.

Puuh, wenn ich da jetzt so drüber gucke, hab ich die Messlatte ja verdammt hoch gelegt… Das alles zusammen auf einmal - naja, vielleicht muss es ja gar nicht alles auf einmal sein. Trotzdem sind mir alle Punkte wichtig, bis auf 1.5, den hab ich mehr so als Pflichtbeitrag geschrieben, weil ich’s für völlig selbstverständlich halte. Die Punkte sind work in progress, da kann sich mit der Zeit durchaus was dran ändern. Vielleicht fällt ja sogar einer weg ;-)

Nachtrag vom 21.05.2017: Punkt 4 zum Thema Gemeinschaft als Organisation ergänzt.