Äußeres Wachstum bremsen, inneres beschleunigen
Hinweis vom 11.08.: Weil das “bremsen” und “beschleunigen” als aktive Zwänge missverstanden wurden, ziehe ich den Schlusssatz an den Anfang vor. Wir müssen das innere Wachstum dafür gar nicht extra “anschieben”, auch wenn die Überschrift danach klingt, es geschieht ganz von selbst, wenn wir unsere Aufmerksamkeit darauf lenken. Gleichzeitig verlagern wir dadurch die Aufmerksamkeit vom äußeren Wachstum weg. Das geht ganz ohne Zwangsmaßnahmen, die ich bekanntlich ablehne.
Beim Lesen des Buches Ganzheitlich handeln habe ich festgestellt, dass ich mit Ken Wilber einen prominenten Fürsprecher dieses Grundsatzes habe:
Deshalb plädiere ich dafür, unsere Ressourcen verstärkt in unsere eigene Weiterentwicklung als Menschen zu stecken und weniger in die Weiterentwicklung von Technologien, die uns selbst ersetzen sollen.
Den habe ich in meinem Shadowrun-Beitrag formuliert & im Beitrag zum Unabomber-Manifest wiederholt. Unter der Überschrift “Der Terror von morgen” schreibt Wilber:
Allgemeiner gesagt, ist es schon lange einer der ständigen Alpträume der Menschheit, dass der technische Fortschritt in den rechtsseitigen Quadranten stets dem linksseitigen Zuwachs an Weisheit, Fürsorge und mitfühlendem Einsatz dieser Technologie vorausgeeilt ist. Man kann auch sagen, dass die äußere Entwicklung der inneren davongelaufen ist – wieder einmal nur deswegen, weil ein materielles Artefakt, sobald es erschaffen ist, von jeder beliebigen inneren Ebene benutzt werden kann. Dementsprechend kann ein auf hohem kognitivem Level tätiges Genie – James Watt zum Beispiel – eine Technologie erfinden (in diesem Falle die Dampfmaschine), die von einzelnen auf jeder beliebigen Entwicklungsebene verwendet werden kann, von einzelnen also, die in ihrer überwältigenden Mehrheit eine solche Technologie selbst nie erfinden könnten. Bis hinein in unsere moderne Ära war die Brisanz dieses Problems begrenzt, weil die Technologien selbst ziemlich begrenzt waren. Mit Pfeil und Bogen kann man der Biosphäre und anderen Menschen nur begrenzten Schaden zufügen. Mit dem Aufkommen der Moderne und des orangefarbenen Mems und von deren weitreichenden Fähigkeiten begann die Menschheit eine Technologie der Orange-Ebene zu erschaffen, als die meisten Menschen sich noch auf roten oder blauen Ebenen des moralischen Bewusstseins befanden. Die jetzt unglaublich machtvolle äußere Entwicklung wurde nicht durch eine gleiche Menge innerer Entwicklung ausgeglichen, und da die rechtsseitigen Technologien einen Vorsprung vor der linksseitigen Weisheit hatten, wurden erstmalig in der Geschichte globale Katastrophen möglich und sogar wahrscheinlich. Von der Möglichkeit des atomaren Holocausts bis zu der des ökologischen Selbstmords begann die Menschheit massiv mit ihrem fundamentalsten Problem konfrontiert zu werden: dem Mangel an integraler Entwicklung.
Es handelt sich dabei um einen Teil der integralen Herausforderungen unserer Zeit. Wilber bezieht sich vor allem auf einen Artikel von Bill Joy, dem Mitbegründer von Sun Microsystems, in WIRED: Why the future doesn’t need us.
Einer der größten Irrglauben der Moderne besteht darin, dass neue Technologien alle Probleme beheben könnten. Ich bin nicht gegen neue Technologien, habe ja schliesslich Informatik studiert und blogge. Ich finde es sehr wichtig, die Grenzen der Technologie zu kennen. Wilber spitzt seinen Punkt später noch zu:
Die inneren Quadranten haben also ohne Frage einiges aufzuholen. Was ist Gutes daran, wenn man sich weiterhin auf die äußeren technologischen Wunder konzentriert, die vor uns liegen – von der Verlängerung des Lebens ins Unendliche über Computer/Geist-Verknüpfungen zu unbegrenzter Nullpunktenergie oder intergalaktischer Raumfahrt durch Wurmlöcher –, wenn wir dabei alle ein egozentrisches oder ethnozentrisches Bewusstsein behalten? Wollen wir wirklich den Weltraum mit Rotes-Mem-Nazis und dem Ku-Klux-Klan kolonisieren? Wollen wir wirklich, dass ein Jack the Ripper 400 Jahre lebt und in seinem Hypermobil kreuz und quer durch die Gegend zischt und misogyne Nanorobober auf die Menschheit loslässt? Äußere Entwicklungen sind zweifellos Anlass zur Sorge; wieviel mehr sind es jedoch innere Entwicklungen – oder deren Fehlen.
Ich wiederhole deshalb noch mal die Frage, die ich schon in Individuelle Freiheit in der Wirtschaft gestellt habe:
Welchen Nutzen wollen wir als Kultur anstreben? Wo soll die Reise hingehen?
Das bezieht sich auch auf den Aspekt, dass viele der Technologien gerade entwickelt werden, um Menschen (als Arbeitskräfte) überflüssig zu machen. Gleichzeitig definieren sich heute die meisten Menschen über Arbeit. Da passt also etwas nicht zusammen. In der Sprache der integralen Theorie bezieht sich jemand, der sich über Arbeit definiert, auf die rechten, äußeren Quadranten. Da fehlt dann natürlich die Hälfte, nämlich die linken, inneren Quadranten. Nur alle vier zusammen bilden ein Ganzes.
Schon uns diese Frage zu stellen – wofür veranstalten wir das Ganze hier überhaupt? – führt uns nach innen. Und da das äußere Wachstum ja immer schlechter funktioniert, weil die Menschheit als Ganzes gerade dabei ist, erwachsen zu werden, deuten alle Zeichen auf verstärktes inneres Wachstum. Wir müssen dieses dafür gar nicht extra “anschieben”, auch wenn die Überschrift danach klingt, es geschieht ganz von selbst, wenn wir unsere Aufmerksamkeit darauf lenken.
Update vom 12.08.: Im Beitrag Wir sind nicht zu viele - Wir sind nur zu blöd! führe ich noch mal aus, dass es mir darum geht, bewusster zu entscheiden, welche Art von Wachstum in welche Richtung wir fördern wollen.