Wir leben im emotionalen Mittelalter
Diesen Satz aus dem Interview mit Teal Swan in der SEIN Die Mythen der Spiritualität finde ich so genial, dass ich ihn gleich als Überschrift nehme. Danke übrigens an Wulf Mirko Weinreich für die Empfehlung! Hier ein paar Ausschnitte aus dem sehr langen Interview:
Es geht nicht um Glückseligkeit. Ich sage dir, dass die glückselige Erfahrung, der Bliss, den viele Menschen Erleuchtung nennen, nur ein vorübergehender Zustand ist. Und wenn du solche Menschen triffst, die sich erleuchtete Meister nennen, so sind dies Leute, die es geschafft haben, häufiger und länger in diesem Zustand und dieser Frequenz zu bleiben. Aber wenn man einen genaueren Blick auf diese Menschen werfen kann, wird man feststellen, dass sie immense emotionale Schwankungen haben. Sie haben einfach nur keinen Widerstand dagegen. Sie können tief in das Leiden sinken, aber in der Regel ist davon äußerlich nichts zu sehen, weil sie keinen Widerstand gegen diese Gefühlszustände haben. Man kann die Wellen nicht sehen. Nehmen wir Jesus als Beispiel: Es ist nicht so, dass er in eine Lepra-Community geht und nichts als Freude und Staunen fühlt. Er lässt sich ein auf das Leid anderer Menschen und verbindet sich in diesen Raum, sinkt hinein, weil er keinen Zweifel hat, dass er auch zur anderen Seite des Spektrums aufsteigen kann. Es gibt keine Angst vor irgendeiner Form von Erfahrung, darum sieht man das Ego auch nicht kämpfen.
Aber dann kommst du wieder zurück. Jedes Mal, wenn du zurückkehrst in eine Realität, in der du das Leben durch eine singuläre Perspektive erlebst – wie es in unserem physischen Körper immer der Fall ist – hast du es immer mit einem Ego zu tun. Und wo ein Ego ist, kommt auch Leiden zurück. Und da ist noch immer dein emotionales Gepäck, das erneut getriggert werden kann. Und das ist der Punkt: Wenn du in Frieden bist mit der Tatsache, dass es um fortschreitende Erleuchtungs-Erfahrungen geht, immer und immer wieder, dann wird Erleuchtung ein Prozess statt ein festes Ziel und dann schwindet der Widerstand dagegen. Es ist dann nur wie: Oh, da ist es ja wieder.
Die ganze Idee der Erleuchtung als Endziel ist so ironisch, weil es im Westen durch die Lehren des Buddha bekannt geworden ist. Aber was die meisten Menschen im Westen nicht bemerken, ist, dass in den ursprünglichen buddhistischen Schriften der Dämon Mara – eine Darstellung aller Schatten des Buddha – immer noch zu ihm zurückkehrte, weit nach seiner Erleuchtung. Statt ihn zu bekämpfen, machte er eine Praxis daraus, Tee mit Mara zu trinken. Und sein berühmter Ausspruch war: „Da ist er wieder!“
Teal Swan hat offenbar nichts zu verbergen, jedenfalls beschreibt sie das als ihren Anspruch:
Als erleuchteter Guru irgendwo auf einem Podest zu sitzen, trennt Menschen von ihrer eigenen Spiritualität, weil es ihnen einen falschen Eindruck von Erleuchtung vermittelt – und es ist ein falscher Eindruck, wie du sehen wirst, wenn du jemals hinter den Samtvorhang der Gurus schauen darfst. Ich hatte außerdem eine Offenbarung vor ein paar Jahren, wo ich erkannte, dass alle meine Informationen nicht mir gehören. Ich meine, entweder man glaubt an die Einheit oder eben nicht. Und wenn du an Einheit glaubst, lebst du dein Leben anders. Wenn ich an die Einheit glaube, dann gehören alle meine Geheimnisse gar nicht mir. Und es gibt eine gewisse Freiheit, sie allen meinen Aspekten zurückzugeben. Außerdem: Ich brauche nichts mehr zu heucheln – und welche Schönheit ist das!
Hier kommt nun die Stelle mit dem emotionalen Mittelalter:
Und es ist leicht, das Ego zu betrachten und zu sagen, es wäre der Grund, warum wir uns schlecht fühlen. Während die Realität ist, dass du dein ewiges, spirituelles Selbst, ohne das Ego nicht erfahren kannst. Wir sind momentan noch nicht bereit, das Geschenk in den negativen Erfahrungen zu erkennen, die wir durchleben, weil sie sich so schlecht anfühlen und wir immer noch in einem Zustand sind, in dem wir nicht bereit sind, zu fühlen. Das ist die Realität: Wir leben im emotionalen Mittelalter. Die meisten Lehrer, die jetzt inkarnieren, werden deshalb viel mehr über Emotionen sprechen als über geistige oder spirituelle Aspekte, über die seit Tausenden von Jahren gesprochen wurde. Das emotionale Mittelalter hält die Menschheit an einem Ort, wo sie nicht fühlen wollen. Und wir erklären alles zu unserem Feind, was negative Emotionen mit sich bringt. Aber sobald dieser Widerstand weg ist und wir in der Lage sind, bewusst durch diese Erfahrungen zu gehen, werden wir feststellen, dass es der Widerstand war, der den Schmerz verursacht hat.
Und hier beschreibt sie das, was Käptn Peng so genial in den Satz “Das Es ist versteckt sich hinter dem Ich” kondensiert hat:
Aber ich würde es als die schlauste Falle des Egos sehen: Dass man sich selbst einreden kann, dass man in der Lage wäre, keine singuläre Perspektive mehr zu erleben und sich mit nichts mehr zu identifizieren. Das funktioniert nicht, das ist einfach eine spirituelle Vermeidungsstrategie. Als allgemeine Regel gilt: Wann immer du irgendeine Form von Ablehnung oder Verweigerung irgendeines Teils des menschlichen Selbst betreibst, wird dass deinen spirituellen Fortschritt irgendwann zum Erliegen bringen. Wohingegen Integration der wirkliche Fortschritt in der Spiritualität ist. Du expandierst, wann immer du etwas mehr von dir selbst umarmen kannst, statt es von dir abzuspalten. Dis-Identifikation ist eine Methode, sich von bestimmten Aspekten der menschlichen Erfahrung abzuspalten. Wir sind jetzt aufgerufen, das genaue Gegenteil zu tun: Wir suchen nach vollständiger und totaler Integration. Ihr Ziel ist es, als ein atmendes, verkörpertes Einssein zu leben. Sobald wir so etwas wie das Ego integrieren, werden wir feststellen, dass seine negativen Aspekte verschwinden und es in seinen erhabenen Zustand aufsteigt. Du wirst nie feststellen, dass du etwas auf positive Weise umarmst und dadurch negative Ergebnisse erzielst.
Und hierbei musste ich gleich an Martin Bubers Ich und Du sowie meinen Beitrag Bedürfnisse/Bedürftigkeit, brauchen und frei sein denken:
Was auch immer wir manifestieren, wird durch etwas oder jemand anderes kommen. Auf einer höheren Ebene wiederum bist du sowohl der Durstige als auch der Fluss und hilfst dir immer nur selbst.
Und weiter:
Wir müssen erkennen, dass wir gleichzeitig unendlich machtvoll und vollständig abhängig sind. Und das ist eine der wichtigsten Herausforderungen der heutigen Spiritualität. Wir können endlich begreifen: Die Quelle wollte sich selbst erkennen. Aber weil die Quelle in einem Zustand der völligen Einheit existierte, konnte sie diese Einheit nur von einem Zustand der Getrenntheit aus begreifen. Grundsätzlich wird darum jedes spirituelle Gesetz, das hier in der physischen Dimension wirkt, in irgendeiner Weise den universellen spirituellen Gesetzen widersprechen. Unsere Aufgabe ist es, diese Ebenen zu verschmelzen und zu erkennen, wie diese „Widersprüche“ sich eigentlich ergänzen.
Jetzt besteht die Herausforderung darin, das, was du oben auf dem Berg gefunden hast in das wirkliche Leben zu übertragen und dann Spaß daran zu haben, es in nur 10 Minuten wieder vollständig zu verlieren. Denn das ist, was passieren wird. Wenn du oben auf deinem Berg denkst, du wärst erleuchtet, wird dieser Eindruck nach 10 Minuten in der U-Bahn verschwunden sein.
Update vom 15.06.: zu dem Satz “Was auch immer wir manifestieren, wird durch etwas oder jemand anderes kommen.” ist mir heute erst mein Danke-Beitrag eingefallen, in dem das sehr deutlich wird.