Wer mich nicht kritisiert, nimmt mich nicht ernst

Diesen Satz habe ich schon in der Schulzeit so für mich formuliert, und er gilt nach wie vor.

Inhaltlich schließt dieser Beitrag direkt an den zum Spannungen aussprechen an, denn mir ist erst vor ein paar Tagen aufgegangen, dass ich diesen Satz lange Zeit nicht umgekehrt hatte. Doch wenn ich andere Menschen nicht kritisiere, nehme ich sie dann ja auch nicht ernst.

Da war meine eigene Schwäche, mein eigener Schatten am Werk: die Angst, anderen zur Last zu fallen und damit meine eigene Existenz zu gefährden. Das ist eine alte Angst, die heute so gut wie nie mehr eine reale Grundlage hat; dennoch ist das ein Muster, das ich über viele Jahre gelernt habe und das es jetzt gilt, zu ent-lernen.

Was das Kritisieren angeht, bin ich ganz bei Fefe, der anlässlich seines Blogjubiläums schreibt:

Das kann ich an dieser Stelle auch gerne mal verraten: Einer der Hauptantriebe für mich, das hier zu machen, sind die Lerneffekte, wenn ich Mist geschrieben habe und mich dann ein Wissenschaftler aus dem jeweiligen Gebiet korrigiert.

Für mich ist das jedesmal ein Fest, wenn sich dann am besten Leser noch gegenseitig ihre Leserbriefe korrigieren, und am Ende haben wir alle was dabei gelernt.

Daher also bitte keine falsche Scham, wenn ihr mich beim Mist-Verbreiten erwischt!

Das sehe ich zu 100% genauso, und in der Sprache von Spiral Dynamics ist das gesundes Orange.

Zur Menschenwürde (die ja auch ein Oranges Konzept ist) gehört für mich, dass ich anderen Menschen auch etwas zutraue. In diesem Fall konkret, meine Kritik zu hören. Sie müssen sie nicht annehmen – es kann ja sein, dass ich mit meiner Kritik falsch liege und selber etwas Wesentliches übersehe. Dennoch mute ich mich den anderen mit meiner Kritik zu.

Ich bin als Agent des kosmischen Bewusstseins auch überzeugt, dass wir einander brauchen, um uns zu entwickeln. Wir brauchen das Feedback von anderen, die unsere eigenen Blinden Flecken besser wahrnehmen können als wir selbst.

Da bin ich dann auch bei der Prozessorientierten Psychologie, für die die Feedbackorientierung ein wesentlicher Eckpfeiler ist. Wenn ich prozessorientiert mit einem Menschen arbeite, habe ich eine Idee, was da vielleicht werden will. Entsprechend mache ich dann eine Intervention und beobachte dann aber genau die Signale, die daraufhin kommen. An diesen Signalen orientiere ich mich, und nicht in erster Linie an meiner eigenen Idee.

Wo ich mich jetzt damit beschäftige, habe ich ein Buch angefangen, das ich schon länger im Regal stehen hatte: Sensibel. Über moderne Empfindlichkeit und die Grenzen des Zumutbaren von Svenja Flaßpöhler. Der Deutschlandfunk hat sie 2021 auf der Frankfurter Buchmesse interviewt: Das gekränkte Individuum.

Nachtrag vom 22.04.: Mir ist ein Vortrag von Jonathan Haidt aus dem Jahr 2015 wieder eingefallen, Jonathan Haidt on Coddling U. vs. Strengthening U.. Das “U.” steht dabei für University; das mit den Triggerwarnungen und Safe Spaces hat ja an amerikanischen Unis angefangen.
Den Vortrag hatte ich damals auch schon in meinem Blog, im Beitrag Mikroaggressionen und Rang.
Im übrigen ist für mich Safe Space nur ein anderes Wort für Komfortzone. Wer sich immer nur in Safe Spaces bzw. in seiner Komfortzone aufhält, entwickelt sich nicht. Entwicklung geschieht immer an den Rändern der Komfortzone bzw. der eigenen Identität. Prozessarbeit ist deshalb immer Arbeiten an der Grenze. Wichtig dabei ist das an der Grenze; jemand über eine Grenze zu schubsen, kann Gewalt sein, wenn es nicht vorher bewusst abgesprochen ist.