Spannungen aussprechen

Heute ist mir klar geworden, dass ich über viele Jahre in meinem Leben gelernt habe, Spannungen, die ich deutlich wahrnehme, nicht auszusprechen sondern für mich zu behalten. Das liegt daran, dass mein Überleben als Kind von der spannungsreichen Beziehung meiner Eltern abhing. Damals hatte ich keine Chance, diese Spannungen auf den Tisch zu bringen, und auch große Angst vor dem Jähzorn meines Vaters. So habe ich die Spannungen in mir behalten, wo sie sich körperlich in häufigen Kopfschmerzen äußerten. Das tun sie auch bis auf den heutigen Tag.

Vor fast 25 Jahren hatte ich in meiner WG in Bielefeld ein erschütterndes Erlebnis: als ich einmal doch eine Spannung, die ich wahrgenommen hatte, aussprach, bekam ich von der betroffenen Person heftigen Widerstand. Das hat mich in einen Angstzustand versetzt, in dem ich dissoziiert habe. Daran wird deutlich, wie stark dieses Muster damals in mir war, und welche Angst dem zugrunde liegt. Vermutlich ist das heute nicht mehr so stark, aber es wirkt nach wie vor.

So habe ich also das Spannungen aushalten deutlich übertrieben und damit mir selber und dem Ganzen geschadet. Denn wenn eine Spannung nicht ausgesprochen wird und auf den Tisch kommt, kann sie auch nicht prozessiert werden.
Natürlich gilt es für die großen, globalen Spannungen weiterhin, dass wir sie im Wesentlichen aushalten müssen. Denn ein einzelner Mensch kann daran nur wenig ändern, wenn wir auch alle zusammen dazu beitragen können. Doch ich gehe davon aus, dass in der Lebensspanne eines Menschen die globalen Spannungen nicht wesentlich abnehmen werden.
Ganz anders sieht es aber in meinem direkten Umfeld aus. Da kann ich sehr wohl Wesentliches verändern, indem ich Spannungen ausspreche, die ich wahrnehme.

An der Stelle muss ich auch zugeben, dass ich mir die Soziokratie gemäß meinem alten Muster zurecht gebogen hatte: ich habe es als sehr entlastend empfunden, etwas einfach erst mal so hinnehmen zu können, wenn ich keinen schwerwiegenden Einwand dagegen habe. Doch das ist nur die halbe Miete. Auf der anderen Seite nimmt die Soziokratie Spannungen als Hinweise darauf, wo wir gemeinsam wachsen können. Das hatte ich im alten Beitrag zu Holacracy schon hervorgehoben:

Was mir an Holakratie auch sehr gefällt, ist, dass es – ganz ähnlich wie Arnold Mindell in der Prozessorientierten Psychologie – von Spannungen als Impulsen für evolutionäre Weiterentwicklung ausgeht. Eine Organisation besteht oberflächlich aus einem Satz von Routinen, sie prozessiert also Bekanntes. Nun tauchen aber ständig Spannungen zwischen Bekanntem und Unbekanntem auf, die sowohl von Holakratie als auch vom Mindellschen Ansatz jedoch nicht als Störungen betrachtet werden, die es zu bekämpfen gilt, sondern als Impulse für Veränderung und Wachstum.

So sei es!