Gouvernementalität in Zeiten der Corona-Pandemie
Ich bin seit einigen Wochen dabei, die Vorlesungen zur Geschichte der Gouvernementalität von Michel Foucault zu verschlingen. Den ersten Band habe ich durch, den 2. gerade angefangen. Dieser handelt vor allem vom Liberalismus und seinen modernen Varianten.
Das Bundesinnenministerium ist momentan ein sehr dankbarer Untersuchungsgegenstand in Sachen Gouvernementalität, wie ich ja schon im Beitrag Dem Staat vertrauen? erwähnte.
Da haben wir auf der einen Seite das interne Strategiepapier des Innenministerium ganz auf der Linie der Staatsräson und das von einem einzelnen Mitarbeiter an die Presse getragene Papier auf der anderen Seite als liberales Gegenbeispiel.
In der einleitenden Vorlesung sagt Foucault
Das ganze Problem der kritischen gouvernementalen Vernunft wird sich um die Frage drehen, wie man es anstellt, nicht zu viel zu regieren.
Der einzelne Mitarbeiter ist offensichtlich der Ansicht, dass unsere Regierung in der Coronakrise zu viel regiert. Der offizielle Standpunkt des Innenministeriums geht nach dem internen Papier von “einem Worst-Case-Szenario von über einer Million Toten im Jahre 2020 – für Deutschland allein” aus, weshalb das Innenministerium findet, man kann gar nicht genug regieren in dieser Krise.
Dabei stützen sich beide Seiten auf (medizinische und andere) Experten – ein wesentliches Kennzeichen der kritischen gouvernementalen Vernunft nach Foucault:
Was in Frage steht und was alles dies erklärt, ist die Tatsache, dass die Regierung in dem Augenblick, in dem sie diese Naturgesetze verletzt, sie ganz einfach missachtet. Sie missachtet sie, weil sie von ihrer Existenz nicht weiss, ihre Mechanismen und Wirkungen nicht kennt. Mit anderen Worten, die Regierungen können sich täuschen. Und das größte Übel einer Regierung, das, was sie zu einer schlechten macht, besteht nicht darin, dass der Fürst schlecht ist, sondern dass er unwissend ist.
In einen Satz zusammengefasst:
Eine Regierung weiss nie genug, so dass sie Gefahr läuft, stets zuviel zu regieren, oder auch: Eine Regierung weiss nie gut genug, wie man gerade ausreichend regieren soll.
Nachtrag vom 20.05.: Die Vorlesung vom 24. Januar 1979 liefert weitere Hinweise zur aktuellen Situation:
Man kann sagen, dass die Devise des Liberalismus ist, “gefährlich zu leben”. “Gefährlich zu leben”, das bedeutet, dass die Individuen fortwährend in eine Gefahrensituation gebracht werden oder dass sie vielmehr darauf konditioniert werden, ihre Situation, ihr Leben, ihre Gegenwart, ihre Zukunft usw. als Träger von Gefahren zu erleben. […] Überall sieht man diese Aufstachelung der Angst vor der Gefahr, die gewissermaßen die Bedingung, das psychologische und innere kulturelle Korrelat des Liberalismus ist. Es gibt keinen Liberalismus ohne die Kultur der Gefahr. Die zweite Konsequenz dieses Liberalismus und dieser liberalen Regierungskunst ist natürlich die gewaltige Ausweitung von Verfahren der Kontrolle, der Beschränkung, des Zwangs, die das Gegenstück und Gegengewicht der Freiheiten bilden.
Nachtrag vom 17.02.2021: Meine Foucault-Begeisterung hat einen Dämpfer bekommen.