Das Große Ich und das Kleine Ich
Lange Zeit war ich (sic!) immer darauf aus, das Ego zu überwinden, wozu es die ein oder andere heiße Diskussion mit Sabine gab. Sie bestand nämlich darauf, dass das Ego ein nützliches & auch notwendiges Vehikel des Bewusstseins in dieser Welt ist. Ich hielt jeweils dagegen, dass das Ego eine Illusion ist, die ihrerseits andere Illusionen fördert, & berief mich dabei u.a. auf Krishnamurti. So kamen wir nie auf einen grünen Zweig, was weder theoretisch noch praktisch befriedigend war.
Arnold Mindell benutzt in seinem Buch “24 Stunden luzid träumen” (siehe Das Klare Licht) die Begriffe das Kleine Ich und das Große Ich zur Unterscheidung, was ich an dieser Stelle sehr hilfreich finde. Damit habe ich sehr schöne Begriffe, um das zu beschreiben, was ich spätestens seit dem Start meiner Bewusstseinsrakete erlebe: Das Ego muss sich nämlich nicht komplett auflösen, oder jedenfalls nicht für immer. Es braucht nur zu erkennen, dass es eines von Milliarden von Kleinen Ichs ist, in denen sich das Eine Große Ich entfaltet und erkennt.
Dazu ist es allerdings notwendig, dass das individuelle Bewusstsein über die Grenzen des Kleinen Ich hinaus sich erweitert und sich als Teil des Großen Ich (wieder-) erkennt. Kurzum: Um Bewusstseinserweiterung kommen wir nicht herum. Und es ist klar, dass sich das Kleine Ich zunächst davor fürchtet, denn es hält sich von vornherein erst mal für den Nabel der Welt. Ein Extremfall davon ist der Solipsismus, bei dem sich das Kleine Ich für Alles hält, d.h. für das Große Ich.
Für ein solches “jungfräuliches” Kleines Ich ist es natürlich extrem ernüchternd, um nicht zu sagen erschütternd, das Große Ich, das Eine All-umfassende Bewusstsein in seiner Ganzheit zu erfahren. Damit wird dann auch klar, dass jedes einzelne Kleine Ich nichts anderes ist als ein Fenster, durch das das Große Ich in die Welt hinausschaut & die Welt hineinlässt – wobei “die Welt” auch wieder nur ein Synonym für das Große Ich ist.
Übrigens verrät hier die Sprache, was Sache ist: individuelles Bewusstsein heißt nichts anderes als ungeteiltes Bewusstsein.
Da das Große Ich also nur Eins ist, ungeteilt, bleibt ihm nichts anderes übrig als sich selbst in unzählige Formen aufzusplitten und in diesen Formen miteinander zu spielen. Keiner bringt das besser rüber als Käptn Peng:
Jedes Kleine Ich ist also eine Form, man kann auch sagen ein System, das in erster Linie versucht, sich selbst zu erhalten. Jede Änderung nimmt es deshalb als einen kleinen oder größeren Tod wahr: “die Angst jeder Form ist das sogenannte Sterben, doch Sterben ist Werden und Leiden ist Lernen” (Shaban & Käptn Peng – Von Form zu Form). Die Buddhisten weisen darauf hin, wie wichtig es ist, die Vergänglichkeit von allem anzuerkennen (anicca).
Nach einigen turbulenten Wochen bin ich seit dem Jahreswechsel sehr entspannt und gelassen. Meist genügt es mir vollauf, zu sein. Ich tue zwar schon noch alles mögliche, fühle mich aber nicht mehr dazu gedrängt, denn wer sollte mich drängen außer mir selbst?
Ein weiterer Effekt ist, dass ich viel mitfühlender geworden bin, weil ich nicht mehr nur denke und glaube, dass die anderen Wesen Spiegel und Aspekte meiner Selbst sind, sondern das ganz klar weiss. Alle sind aus dem Großen Ich hervorgegangen, die Dummen wie die Schlauen, die Reichen wie die Armen, die Brutalen wie die Sanften. Sie haben es nur in unterschiedlichem Ausmaß vergessen, haben sich eben selbst geblitzdingst (an dieser Stelle noch mal der Hinweis, schau dir Men In Black II noch mal unter diesem Gesichtspunkt an).
Ein anderer Rapper, Amewu, drückt das so aus:
Ich bin das Universelle, ich bin das Dunkle, das Helle
Ich bin die Spitze jedes Berges und die unterste Stelle
Ich will eigentlich gar nicht raus hier, ich will eigentlich nur ne buntere Zelle
Bis ich tot und wieder frei bin, eine buntere Zelle
Das Wissen, dass ich zugleich das Große Ich & ein Kleines Ich bin, ist ein sehr interessanter Zustand. Eine Affinität zum Großen Ich hatte ich schon lange, habe mich früh mit den Herausforderungen der Menschheit befasst & mir ein paar davon zu eigen gemacht. Manchmal hatte mein Kleines Ich dabei aber die Tendenz, sich aufzublähen zu einer Art Superheld (natürlich nur in Gedanken) und sich für alle weltweiten Probleme persönlich zuständig zu fühlen.
Sonntag Abend lag ich z.B. in der Badewanne und dachte über etwas nach, wovon ich am Nachmittag erfahren hatte: Dass im nördlichen Sinai Beduinenstämme in Eritrea Menschen entführen, um sie zu foltern und Lösegeld zu erpressen. Eine fiese Sache, für die sich in Europa kaum jemand interessiert, weil es ja “nur” um arme Eritreer geht.
Nun liege ich da also in der Badewanne, was ich sehr genieße, & versuche ansatzweise meine Situation mit der eines solchen Flüchtlings zu vergleichen. Kurz keimte dabei der Impuls auf, schnellstens die Badewanne zu verlassen & etwas “sinnvolles” zu machen, das die Welt ein Stück besser macht. Den beobachtete ich, blieb aber in der Wanne liegen & verstärkte statt dessen mein Gewahrsein dessen, dass vielleicht genau in diesem Moment im Sinai oder auch anderswo auf diesem Planeten Menschen gefoltert werden.
Das ist die Perspektive des Großen Ich: Der Blick aufs Ganze. Aus dieser Perspektive bin ich als Kleines Ich nicht getrennt von allem anderen, was in der Welt geschieht. Und ich habe als Kleines Ich eine ganz spezielle Aufgabe, etwas, das nur diese eine ganz besondere Form tun und erleben kann. Und das mitten im ganzen Spektrum von großartiger Schönheit bis hin zu abgrundtiefem Schmerz und Wahnsinn.
Freundeskreis rappt:
Voll Hunger und voll Brot ist diese Erde
Voll Leben und voll Tod ist diese Welt
In Armut und Reichtum grenzenlos
Von Schönheit hell entflammt ist diese Erde
Vom Elend ganz verbrannt ist diese Welt
Doch ihre Zukunft ist herrlich und groß
Aus der Perspektive des Großen Ich erscheinen die Ambitionen meines Kleinen Ich als das, was sie sind: purer Größenwahn. Bewusstseinserweiterung bringt immer auch Lektionen in Demut mit sich. Zugleich aber auch ein stetig wachsendes Mitgefühl. All dieses Leiden, diese Angst & diese Schmerzen haben Platz in meinem Herzen, denn das ist auch das Große Herz des Großen Ich.
Update: Hey, das nenn ich mal Gedankenübertragung: Rasputin hat grad mit Sidique nen neuen Track mit dem Titel “Das Ego” gemacht.