Das Dao des inneren Anarchismus
Der 3. Band von Viktor Kalinkes Ausgabe des Daodejing wirft noch mal ein neues Licht auf die ethischen Folgerungen des inneren Anarchismus. Mit einem gewissen Erschrecken vor mir selbst hatte ich damals geschrieben
Das heißt im übrigen, dass Werte, Überzeugungen, Ideale und Moral der Freiheit entgegenstehen. Denn sobald es einen absoluten Wert für mich gibt, lasse ich mich von diesem beherrschen. Ich kann dann eben nicht mehr tun, was ich will, weil ich mich selbst davon abhalte.
Durch Kalinkes Interpretation der daoistischen Ethik ist mir nun klar, dass ich mich damit seinerzeit ein gutes Stück vom indoeuropäischen Denken gelöst hatte.
Für das Daodejing ist der Mensch einerseits weder gut noch böse, denn er ist – wie alles in der Natur – vom Dao durchdrungen, und das Dao ist als das ursprüngliche Eine wertneutral. Der Mensch als Teil der Natur ist so gut oder so böse wie ein Hund oder ein Wolf oder eine Rose.
Andererseits trägt, folgen wir dem Daodejing, jeder Mensch grundsätzlich das “Gute” als auch das “Böse” in sich, denn indem er gut ist, zeigt sich erst das Böse und umgekehrt.
Die Frage, welche Seite des Menschen hervortritt, hängt von den Umständen und von der Situation ab, die sich schnell ändern können. Die daoistische Moral schmiegt sich der Situation an, sie ist bereits in der Situation enthalten und von daher implizit. Keinesfalls formuliert sie situationsübergreifende, transzendente (“sture”) Prinzipien: Nur der Törichte orientiert sich an Grundsätzen und Wertmaßstäben, Normen und Regeln, denn unmöglich können sie die tatsächliche Vielfalt der Situationen berücksichtigen.
Schärfer noch:
Moralische Normen sind daher dem Daodejing zufolge nicht nur keine harmlosen Sekundärtugenden, sondern schädlich oder gar gefährlich.
Übrigens handhabt auch das linkshändige Tantra Ethik immer situationsabhängig.
Wenn mir also jemand Werteverfall vorwirft, dann geht dieser Vorwurf ins Leere. Denn ein Werteverfall setzt ja voraus, dass es da überhaupt irgendwelche universellen Werte gäbe, die verfallen könnten. Eben das stelle ich grundsätzlich in Frage und sage “es kommt darauf an”.
Übrigens kann ich an dieser Stelle noch mal explizit Arnold Mindells Buch River’s way : the process science of the dreambody (deutschsprachige Ausgabe Traumkörper-Arbeit oder Der Weg des Flusses) empfehlen. Darin beschreibt er die theoretischen Grundlagen der Prozessarbeit und bezieht sich dabei vor allem auf den Daoismus als vollständige Prozess-Theorie. Arny fasst die Prozessarbeit knapp in 2 Worten zusammen: follow nature.