Das KommuneBuch
In der KoWa nutzte ich die Gelegenheit, ausgiebig im KommuneBuch zu schmökern. Was ich daran besonders spannend finde, werde ich Euch nicht vorenthalten:
Uwe Kurzbein: Schrittweise (Geschichte der Kommunebewegung)
Uwe Kurzbein, der Mitbegründer der Lutter-Gruppe, schreibt:
“…& das erscheint uns das Wichtigste, sie (die Kommune) versteht sich nicht als Praxis per se, sondern als funktionale Einheit, die Praxis ermöglichen soll. Sie hat also aus der Tatsache, dass wir noch keine generelle Strategie ermöglichen können, nicht den falschen Schluss gezogen, sie sei die Strategie selbst”. (Aus: Kommune 2 / Versuch der Revolutionierung des bürgerlichen Individuums. (1969)) Der später in anderen Zusammenhängen entstandene Überlebensspruch aus dem spirituellen Indianermilieu, “Nur Stämme werden überleben!”, bedeutet nämlich genau dies, dass das Leben in einem Stamm, oder hier in einer Kommune, eine Überlebensstrategie sei. Die Geschichte der Vernichtung der Indianer durch den Weissen zeigt genau das Gegenteil.
Also: Kommune nicht als Selbstzweck!
Seine Kritik am ZEGG geht in eine andere Richtung als sie meistens geäussert wird:
Ich selbst war einmal am Bodensee in ihrer Gemeinschaft (Meiga) & einmal im ZEGG. Meine Kritik setzt in erster Linie bei den offensichtlichen Suchtstrukturen an, die sich in einem nicht übersehbaren Alkohol- & Nikotingenuss gezeigt haben. Interessant scheint für mich neben den anderen Kritikansätzen die Frage zu sein, wie weit diese sogenannte freie Sexualität unter anderem auch in ihrem transformatorischen Bordell geradewegs in Suchtkreisläufe hineinführt. Was jedoch ebenfalls unübersehbar war, das war die dominierende & tragende Rolle der Frauen.
Eine Frage, der es sich lohnt weiter nachzugehen!
Uwe Kurzbein beschreibt, was für ihn das Besondere der Lutter-Gruppe ausmacht:
Einige der Lutteraner verstehen sich als Anarchisten, andere, vor allem die Frauen, wollen sich gar nicht einordnen lassen, & zwei beschäftigen sich explizit mit Spiritualität. Andere wiederum begreifen sich in erster Linie als Antifaschistinnen. Das alles ist zusammen gut lebbar, weil sich auf Lutter ein Chaos eingestellt hat, das von mir, aber auch von anderen politisch als sinnvoll & notwendig begründet wird. “Entauthorisierung von Bezugssystemen” meint, immer wieder die Systeme, Strukturen, Beschlüsse, Regeln zu hinterfragen & zu ändern. Diese Strukturen sind von uns immer mit Macht ausgestattet. Wenn diese Macht institutionell wird, gilt sie zerschlagen zu werden. Niemand weiss, wie sich das Leben auf Lutter entwickeln wird. Niederkaufungen hingegen quillt vor Regeln schier über. Die Haushaltsführung, die Abrechnungen, die Arbeitszeiten, die Wohngruppen, alles ist wunderbar geregelt. Es gibt dort Arbeitsbereiche, die autonom existieren, & andere wie den Kindergarten, der öffentlich gefördert wird. Es gibt ABM-Stellen & Vereinsmodelle, eine geordnete Altersversicherung ist in Arbeit. Lutter versteht sich als Experiment, als Rahmen, der von den Menschen, die dort leben, ausgefüllt werden muss. Ich habe den Eindruck, dass Niederkaufungen sich bereits als Lebensentwurf versteht.
Das tut das ZEGG nach meiner Einschätzung ebenfalls.
Zum Schluss weist Uwe Kurzbein auf die Verantwortung hin, die gerade Menschen in Kommunen in der menschlichen (Welt-) Gesellschaft haben:
Die zur Zeit bestehenden Kommunen gehören zu den Reichen dieser Gesellschaft in einem der reichsten Länder der Welt. Sie verfügen allesamt über meist grosse Gebäude, grosse Grundstücke, über ihre Produktionsmittel. Die Menschen sind Eigentümer & Grossgrundstücksbesitzer, auch wenn sie die Immobilien scheinbar über Vereine oder andere Gesellschaftsformen sozialisiert haben. Sie zahlen keine Miete & brauchen längst nicht so viel zu arbeiten wie der normale Mensch in der bürgerlichen Welt. Die Möglichkeiten der eigenen Entfaltung sind in den Kommunen fast in jeder Hinsicht unbegrenzt. Ich bin der Meinung, dass dieser Reichtum verpflichtet. Er verpflichtet dazu, immer wieder an das politische Ziel zu erinnern & hartnäckig daran zu arbeiten. Er verpflichtet, aktiv an verinnerlichte Strukturen heranzugehen. Er verpflichtet, politisch zu sein. Er verpflichtet zur Öffentlichkeit. Hier, in diesen Möglichkeiten, liegt aber auch die Chance, sich aktiv an den politischen Auseinandersetzungen zu beteiligen. Die grosse Chance besteht darin, herrschaftsfreies Leben zu entwickeln & vorzuführen & Orte bereitzuhalten, an denen politische Begegnungen & Kontakte möglich sind.
Elisabeth Voß: Wege, Umwege, Irrwege
Elisabeth Voß beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit den Sehnsüchten von Menschen in Kommunen/Gemeinschaften & was sich daraus entwickeln kann:
Das Phänomen, dass Gemeinschaften oft dann am stabilsten sind, wenn sie mit äusseren Problemen zu kämpfen haben, & dass in Ruhephasen häufig Konflikte aufbrechen, ist bekannt. Die Art des Umgangs mit inneren Konflikten ist ein Gradmesser für den emanzipatorischen Charakter einer Gemeinschaft. Ein überhöhtes Sendungsbewusstsein, das mehr Wert legt auf die Richtigkeit dessen, was sein soll, als auf die offene Wahrnehmung & Kommunikation des Bestehenden, läuft Gefahr, zur Ideologie zu verkommen, deren Umsetzung die Bedürfnisse der Beteiligten missachtet. […] Der Anspruch, alles “richtig” zu machen, führt leicht in die Nähe elitärer Heilslehren & Übermensch-Phantasien. Ihn loszulassen fühlt sich ziemlich erleichternd an.
Ihre Kritik gilt dabei vor allem spirituellen Gemeinschaften, ohne diese pauschal zu verurteilen:
Es wäre zu einfach, jede Gemeinschaft, die hierarchische Strukturen aufweist oder elitäres Gedankengut vertritt, gleich als faschistisch zu bezeichnen. Auch Religiosität oder Spiritualität sind nicht an sich reaktionär. Wenn jedoch Heilsbotschaften unhinterfragbar mit spirituellen oder naturgesetzlichen Wahrheiten begründet werden (wobei spirituell begründete Naturgesetze eine pseudo-rationale Mythologisierung darstellen) kann zumindest von einer Gefährdung durch totalitäre Ideen ausgegangen werden, denn dann wird es immer Menschen geben, die im Besitz der “Wahrheit” sind, & andere, denen diese nahegebracht werden muss. Trotzdem halte ich es für ganz wichtig, nicht jedes “Sendungsbewusstsein” als faschistoid zu brandmarken. Eine inflationäre Handhabung des Faschismusbegriffs relativiert die Aktivitäten der strammen Rechten (Propagierung der “Auschwitz-Lüge”, handgreifliche Fascho-Überfälle, etc.) & missachtet das subjektiv “gute” Wollen vieler Menschen, die (spirituelle) Heilslehren vertreten & darauf ihre Gemeinschaften aufbauen. Faschismus ist untrennbar verbunden mit Grossmachtstreben & Vernichtungswillen. Wo Menschen - vielleicht aus politischer Naivität - meinen, im Besitz der “Wahrheit” zu sein, ohne diese gewalttätig durchsetzen zu wollen, finde ich Diskussionen wichtiger als Denunziation. In Gesprächen über Spiritualität stelle ich immer wieder die Frage nach der Einschätzung von Auschwitz. & es ist mir auch schon von Mitgliedern spiritueller Gemeinschaften geantwortet worden, dass nach dem Karmagesetz dort das jüdische Volkskarma vollzogen wurde, dass die Dualität von Gut & Böse weltlicher Schein sei & alles, was passiert ist, gut ist weil es ist. So werden auf widerwärtige Art Opfer zu Tätern gemacht, & Täter als Vollstrecker karmischer Gesetze reingewaschen. Aufgrund dieser Erfahrungen halte ich die Diskussion dieses Themas für einen unerlässlichen Prüfstein einer zukünftigen Zusammenarbeit von Gemeinschaften.
Trotz dieser Bedenken sieht Elisabeth Voß, welche Bedeutung solche spirituellen Experimente haben können, gerade wenn es um grundlegende Sehnsüchte der Menschen geht:
In vielen Gemeinschaften werden existenzielle menschliche Fragen eher ausgespart. Diskussionen um Ökologie & Ökonomie nehmen einen breiten Raum ein, & auch die Beschäftigung mit gruppendynamischen Prozessen ist mittlerweile ziemlich verbreitet. Es gibt eine Reihe von Standards (gemeinsames Eigentum, Konsens-Entscheidungen, etc.) & ihnen entsprechende Erwartungen an die Menschen in den Projekten. Im Verhältnis dazu scheint mir die Frage nach ganz individuellen Bedürfnissen & Ängsten eher unterrepräsentiert. Insofern können gerade solche Gemeinschaften wie z.B. das ZEGG oder der Stamm Füssen Eins, die sich offensiv mit Fragen der Sexualität auseinandersetzen, wichtige Impulse geben, denn dieses Thema scheint mir in anderen Gruppen fast tabuisiert. Spirituelle Gemeinschaften, die über Rituale Gefühle von Zusammengehörigkeit & Naturverbundenheit herstellen, bieten zumindest die Möglichkeit existenzieller Erfahrungen, die über die Bewältigung praktischer Dinge hinausweisen. Dies kann es erleichtern, einen Umgang mit der Frage nach dem Sinn des Lebens & damit zusammenhängenden Themen wie Krankheit & Tod (die im rational ausgerichteten Alltag oft genug ausgespart bleiben) zu finden. Spirituelle Wünsche nach Zugehörigkeit & Eins-Sein mit einem grösseren Ganzen können allerdings da für Einzelne repressiv werden, wo Widersprüche & negative Gefühle nicht sein dürfen. […] In einer Gemeinschaft miteinander authentisch zu sein, setzt vielleicht eine gewisse Selbstsicherheit voraus, um das je Eigene gegen die Ansprüche der Gruppe (seien sie nun rational-politisch oder spirituell begründet) behaupten zu können & gleichzeitig auf dieser Basis andere in ihrem Anders-Sein wertschätzen zu können. Persönliche Befindlichkeiten führen ein anarchisches Eigenleben & widersetzen sich jeglicher sozialen Kontrolle. Ihre Thematisierung jenseits der jeweiligen political correctness bietet die Chance, Nähe zwischen Menschen herzustellen & in einem kreativen Prozess der gemeinsamen Selbstfindung grundsätzlich andere als die bürgerlichen - letztlich aus Funktionieren ausgerichteten - Werte zu leben.
Die Abwehrhaltung gegen alles Spirituelle, wie sie in Polit-Kreisen weit verbreitet ist, kann sich durchaus als kontraproduktiv erweisen:
Der Wunsch nach mehr als dem rational Erfahrbaren drückt sich in der politischen Szene vielleicht noch am ehesten aus, wenn auf Festen die Joints herumgereicht werden. Was oft fehlt, ist ein offensiver Umgang mit Sehnsüchten, die über die Einsicht in das als politisch richtig Erkannte hinausgehen. So besteht die Gefahr, dass das Feld der Irrationalität als faschistoid gebrandmarkt den Rechten überlassen wird, statt sein Potential des Widerstands gegen die Rationalität des Kapitalismus konstruktiv zu nutzen. Wenn der von alten & neuen Rechten propagierte Anti-Intellektualismus (ein wesentlich antisemitisch geprägtes Ressentiment) als Abwehr auf der Gegenseite das Beharren auf kalter Rationalität hervorruft, besteht zumindest die Gefahr, dass Menschen in Sinn- & Lebenskrisen sich bereitwillig hierarchischen Gruppen anvertrauen, wo sie ihre persönlichen Sehnsüchte angesprochen fühlen.
Uwe Kurzbein: Die Plackerei - Nachdenken über Heilung in der Gesellschaft
Das Thema Heilung beleuchtet Uwe Kurzbein vor allem in Hinblick auf Süchte. Er bezieht sich dabei stark auf das Buch Helft Euch selbst. Der Release-Report gegen die Sucht. Ein anderes Buch zum Thema, das ich selber noch nicht gelesen habe, das aber mit Sicherheit sehr erhellend ist, ist Im Zeitalter der Sucht von Anne Wilson Schaef.
Gemeinschaften können süchtiges Verhalten sogar fördern:
Das Leben in der Kommune fördert nicht automatisch Heilung oder den Abbau von Süchten. Das Gegenteil ist der Fall. Eine Gemeinschaft wirkt in erster Linie suchtstützend & suchtverhärtend. Warum? Ich habe mir dieses Phänomen so erklärt: Wenn ich, in meiner Mutter - Vater - Kindbeziehung Neurosen entwickelt habe, weil ich mit einem Defizit von Liebe, Nähe & Wärme aufwachse, & über diese Schiene auch meine wichtigen Liebesbeziehungen durchlebe & jetzt wieder genau diese Wünsche von meiner Gemeinschaft erfüllt haben möchte, dann projiziere ich genau dieses Eltern-Kind Verhältnis auf die Gemeinschaft. Da die Gemeinschaft aber weder Vater noch Mutter ist, kann sie dieses Defizit nicht stillen. Es ist deshalb auch in diesem Kommunerahmen erklärlich, dass ich genau wie früher mit meinen erlernten Verdrängungen & neurotischen Mustern reagiere. Je mehr ich jedoch von der “Gemeinschaft” an Wärme & Zuneigung fordere, desto weniger werde ich das bekommen, & je weniger ich bekomme, desto stärker fordere ich das. Dass ich das nicht bekomme, was ich mir von der “Gemeinschaft” wünsche, hat einen einfachen Grund: Die Gemeinschaft ist nicht konkret greifbar, nicht konfrontierbar, weil mit dem Begriff “Gemeinschaft” lediglich die Beziehung vieler Menschen zueinander beschrieben wird. Die emotionale Beziehungsstruktur “Ich zur Gemeinschaft” ist daher romantisch verklärt. Anders würde es sofort werden, wenn ich meine Wünsche nach Wärme & Nähe direkt, ohne Umwege an meine Beziehungspartner oder -partnerinnen richte, an meine Freunde oder Freundinnen, an jeden einzelnen Menschen in der Gemeinschaft persönlich. In dem Moment, in dem ich das mache, verlasse ich den Kreis ewigen vergeblichen Forderns & werde selbstverantwortlich. Es besteht die Möglichkeit, konkret über die Erfüllung dieser Wünsche zu verhandeln. Ich sage dazu, dass ich dann authentische Beziehungen eingehen kann. Leider geschieht das nur selten.
Das ist eine ganz wichtige Lektion für Menschen, die in Gemeinschaft leben: Wende dich mit deinen Wünschen immer an Einzelne in der Gemeinschaft, erwarte keine Erfüllung von “der Gemeinschaft”!
Was lässt sich nun angesichts der Suchtstrukturen in Gemeinschaften tun?
Diese Suchtkreisläufe sind ein typisches Merkmal für eine leistungsorientierte bürgerliche Gesellschaft. Wenn sich in meiner Gemeinschaft diese Suchtkreisläufe zeigen, dann weiss ich, dass wieder bürgerliche, patriarchale Strukturen kultiviert werden. Heilung heisst, diese Suchtkreisläufe zu durchbrechen. Das kann ich jedoch nur, wenn ich versuche, meine inneren Strukturen zu verändern. Strukturveränderung heisst immer, die alten, gewohnten, “sicheren”, berechenbaren Verhaltensweisen zu verlassen. Das bedeutet, Sicherheit abzulegen & in unsichere Zustände zu gehen. Wenn Situationen für mich unsicher sind, habe ich immer Angst. Ich stehe deshalb vor meiner Angst, mit der ich mich auseinandersetzen kann. In den Siebzigern stand als Erfahrung aus den Strassenkämpfen an den Toilettenwänden: “Wo die Angst ist, ist der Weg”. Für den inneren Kampf um strukturelle Veränderungen gilt dieser Satz genauso. Sicherheit zu verlassen bedeutet fast immer, die authentischen Gefühle zu leben & auszudrücken. Bei Freude & Liebe mag sich die Stimmung in der Gemeinschaft jubelnd in die Lüfte heben. Zorn, Wut, Aggressionen, Hass sind von den Mitgenossinnen nicht leicht zu ertragen & zu akzeptieren. Ich habe für diese Art des Einandermitteilens den Begriff der “direkten Kommunikation” gewählt. In dem Buch “Das Mann - Frau Buch” von Ron Smothermon bezeichnet er das authentische Erleben als das “Reich des Absoluten”, das keinen Vergleich mit der Vergangenheit & der Zukunft zulässt, weil es jetzt, hier passiert. Wir meinen beide das gleiche, nämlich das “Hier & Jetzt”. Die Begriffe “falsch & richtig”, “Recht & Unrecht”, “Schuld & Unschuld” haben dann in diesem Zusammenhang nichts mehr verloren.
Als er sich mit dem Thema Sucht beschäftigt, gelangt der Anarchist Uwe Kurzbein zur Spiritualität:
Die Anonymen Alkoholiker (AA) sagen zu dem Punkt, an dem die Veränderung ansetzen kann, “Kapitulation”. An unsere Brauhauswand haben die Genossen vor 14 Jahren den Satz geschrieben: “Du veränderst Dich erst, wenn Du es nicht mehr aushälst”. Kapitulation bedeutet, dass Hilfe notwendig ist & dass das Heilen dieser Sucht oder der Krankheit oder der neurotischen Struktur nicht aus eigener Kraft möglich ist. Es ist die Erkenntnis, dass die eigenen Kräfte nicht unerschöpflich sind & dass ich nicht nach meinem freien Willen über mich & meinen Körper entscheiden kann. Es gibt eine Grenze. Die Spiritualität ist ein Weg, der das Verständnis dafür entscheidend fördern kann. Ich erinnere mich an einen Mann, der in seiner Weisheit sagte: “Du musst arbeiten bis an Deine Grenze, der Rest wird Dir vielleicht geschenkt.” Hier setzt das dan, was ich unter Spiritualität verstehe. Das Prinzip der Kapitulation habe ich auf vielen Ebenen getroffen. Sei es, um Süchte zu bewältigen, Heilung zu erlangen, die mütterliche Liebe zu ergattern oder die Prinzessin auf der Erbse zu finden. Ich jedenfalls bin oft an meinen Punkt gekommen, an dem ich Hilfe brauchte. Als Anarchist & Mann allerdings hat es mich irrsinnige Mühe gekostet, dies zu akzeptieren. Die Neigung, alles alleine machen zu wollen, ist paradoxerweise bei mir, aber auch bei meinen Freunden tief im Bewusstsein verankert. Wir nölen zwar allesamt jahrelang darüber, dass jeder von uns alleine in seinem Betrieb arbeitet, & hadern mit unserem politischen Anspruch, im Kollektiv arbeiten zu wollen. Indes denken wir lieber darüber nach, wie wir eine Arbeit alleine schaffen können, als andere um Hilfe zu fragen. Selbst auf dieser Arbeitsebene fällt es uns schwer, unsere Leistungsgrenze zu akzeptieren. Ungleich schwerer fällt es mir auf einer spirituellen Ebene, zu der ich ohnehin kaum einen Zugang habe. Die AA’s haben dafür die höhere Macht eingeführt. Wie diese höhere Macht nun genannt wird, habe ich für mich selbst ausgemacht, & es liegt sicherlich auch bei mir, wieviel Einfluss ich ihr auf mein Leben gebe. Manche nenne das Gott, & für sie mag es das sein, was die Kirche lehrt. Für mich ist das anders: Ich habe seelisch, geistig & körperlich erfahren, dass es für mich wichtig ist, meinen Platz in dem grossen Gefüge zu finden, meine Zugehörigkeit zu diesem Universum oder, um auf dem Boden zu bleiben, meinen Platz hier auf der Erde. Diesen festen Platz spüre ich, wenn ich meine bioenergetischen Übungen unter der Kastanie vollziehe. Ich spüre den Wind, die Luft, die Wärme oder Kälte, ich höre die Vögel & erfahre den Duft der Blumen. Ich bin real fühlbar eingebunden in den Kreislauf, in die Natur. Das ist, sehr bescheiden, meine “höhere Macht” & meine Spiritualität.
Dazu fiel mir ein Zitat aus dem Buch Abwesende Väter, Verlorene Söhne von Guy Corneau ein:
Unsere Ängste & unsere Schatten können zu Brücken werden, die uns mit anderen Leuten verbinden. Dinge, in denen wir überragend sind, können wir selbst handhaben, aber unsere Wunden & unsere Schwächen helfen uns, mit anderen zu kommunizieren. Wir halten nur dann Ausschau nach einer Schulter, an der wir uns ausweinen können, oder einem Freund, der uns unterstützt, wenn wir Kummer haben oder verstimmt sind. Niemand wagt es, mit seinen Ängsten alleingelassen zu werden. In diesem Sinne sollte auch ein Held es zulassen, dass andere seine wirklichen Bedürfnisse erkennen.
Was die Lutteraner durch ihre Beschäftigung mit persönlichen Engpässen erfahren haben, wirkt sich auch auf das Verständnis von Anarchie aus:
In unseren alltäglichen Mittagsrunden haben wir den Anarchiebegriff in unterschiedlichen Entwicklungsphasen weiterentwickelt. Wir sind ausgegangen von der Definition: Anarchie bedeutet Ordnung ohne Herrschaft, wobei bei uns zumindest Herrschaft immer mit Hierarchie gleichgesetzt wird, obwohl es inhaltlich etwas ganz anderes sein kann. Darüber sind wir zu den freien Entscheidungen gekommen. Frei entscheiden können wir uns, wenn es uns gelingt, unser zwangsneurotisches Verhaltensmuster abzulegen. Dadurch entdeckten wir die authentische Lebendigkeit, & diese ist die Voraussetzung für meine Utopie “Heilung & Weisheit”. Anarchie kann demnach für mich nur bedeuten, dass ich mich in die Lage versetze, wirklich frei zu wählen & mich frei zu entscheiden. Anarchie ist pulsierende Lebendigkeit. Frei entscheiden kann ich mich nur, wenn ich die wichtigsten meiner Neurosen verabschieden kann & ich mich nicht mehr dem Zwang ausgesetzt sehen muss, mich aufgrund meiner ansozialisierten Verhaltensweisen zu entscheiden.
Eine Erkenntnis aus Uwe Kurzbeins Erfahrungen mit dem “geschützten Raum”: Das funktioniert nur mit Menschen, mit denen ich gerade nicht im Alltag zusammen lebe!!! Weil sonst alles, was ich da mitteile, in den Alltag mit hineinwirkt! Dadurch verliert der Raum seinen Schutz, & Angst vor den Konsequenzen meiner Äusserungen hält mich davon ab, mich den anderen so zu öffnen wie eigentlich gewünscht.
“& die Bedingung der Anarchie ist für mich die Überzeugung, dass jeder Mensch die Möglichkeit in sich trägt, sein Verhalten zu ändern, solange er lebt.” (Gustav Landauer)
Thomas-Dietrich Lehmann: Befreites Gebiet?
Thomas-Dietrich Lehmann vom Zorrow e.V. schreibt über “(Anti-)rassistische Irritationen im kommunitären Wohnprojekt”. In seinem Beitrag zum KommuneBuch bezieht er sich stark auf das Buch Odranoel - Die Linke zwischen den Welten des AutorInnenkollektivs Pizza, vor allem auf Klaus Viehmanns Artikel “… zu mehr in der Lage”. Viehmann war als Mitglied der Bewegung 2. Juni mehrere Jahre im Gefängnis.
Für mich bemerkenswert ist die Stelle, wo vom “eigenen stummen Zwang der Verhältnisse” die Rede ist, durch den die Linke an die BRD-Entwicklung gefesselt bleibt (Viehmann 1992, 167f.). Sie diente mir als “Prüfstein”, mich auf die kritische Reise ins Kommuneleben zu begeben.
Klaus Viehmann stellt in seinem Beitrag die Fragen
“Welcher Klasse gehört die Linke in der BRD an? Welches Geschlecht hat sie? Welche Hautfarbe? Welche Nationalität?” (ebd.)
& er gibt auch die Antwort, sowie deren Konseqzenz:
“Je finanziell abgesicherter, je metropolitaner, je männlicher & je weisser eine Linke ist, desto weniger erfährt sie aus sich selbst heraus.” (ebd.) Das alles trifft so in etwa auf unser Wohnprojekt & das Umfeld, in dem wir leben, zu. Entsprechend wenig erfahren wir aus uns selbst heraus über die Lebensbedingungen, die diese Gesellschaft mittlerweile prägen. Wenn aber Flüchtlingslager & die massenhafte Diskriminierung von Menschen mindestens geduldet werden, dazu nazistisch-mörderische Gewalt gegen Flüchtlinge, gegen Frauen & gegen überhaupt alle, die nicht ins Bild des sogenannten anständigen Doitschen passen, dann - spätestens - werden wir “Freiraum” & “Fluchtburg”, die uns liebgewordenen politischen Begriffe zur Kennzeichnung unserer Anstrengungen gegen das System, ganz neu buchstabieren müssen: Im Angesicht der Lager in unserer Nachbarschaft.
Unsere geschilderten Erfahrungen im Wohnprojekt lassen vielleicht die Nachfrage zu, ob nicht zu naiv von einer Projektion ausgegangen wurde, die meinte, alle Menschen würden fraglos genauso gern wie wir in der Kommune leben. & alle andersgearteten kulturellen & politischen Voraussetzungen der Einzelnen wären leicht & sogar undiskutiert zu überwinden. Unberücksichtigt blieb auch, dass die meisten von uns auf der existentiell abgesicherten Seite der Gesellschaft ihren Platz haben & keineswegs zu den Opfern des herrschenden Systems zu zählen sind (allenfalls zu den Unzufriedenen). Hier liegt die Denkfalle einer undifferenziert angewandten Gleichheitsforderung offen zutage. Auf der sozialen Ebene des Zusammenlebens ist die Option politischer Gleichheit zwar auch grundlegender Orientierungspunkt, der erst noch zu verwirklichen ist, aber hier, im Miteinanderleben, gilt es daraufhin, die Vielfältigkeit von Lebensumständen zu erfassen. Hier bedeutet die Konstruktion einer Homogenität aller KommunardInnen durchaus eine Verschleierung von real existierenden Unterschieden, die entweder überwunden werden sollten, soweit es um Opfer - Täter - Zusammenhänge geht, oder die letztlich akzeptiert & angenommen werden sollten, soweit es um kulturelle Autonomie & Identität geht. Diese beiden Ebenen des Kampfes um Gleichstellung wie auch der Akzeptanz von Vielfalt sollten nicht durcheinander geraten. Die antirassistische Praxis von KommunardInnen sollte sich also zuerst über den eigenen Zugang zu dieser Arbeit Klarheit verschaffen.
Wir haben in unserem Wohnprojekt Erfahrungen machen müssen, mit denen wir selber, aber noch mehr die zeitweilig mit uns lebenden Flüchtlinge bezüglich der Sehnsucht nach selbstbestimmtem Leben im Regen stehen. Es ist also geboten, einmal innezuhalten & Bilanz aufzumachen. Befreite Gebiete zu propagieren ist ja gut & schön, aber für wen soll das gelten? Wann verwandeln sich ehemals besetzte Räume & Häuser in erstarrte privilegierte Ghettos? Wenn ich innehalte, träume ich von befreiten Gebieten & unübersichtlichen Fluchtburgen, in denen alle BewohnerInnen nach ihren Bedürfnissen zum Zuge kommen & erstmal abgeschirmt vor staatlichen & rassistischen Übergriffen leben können. Kollektives Wohnen & Arbeiten schliesst den Widerstand & die Subversion gegen die kaltmachenden Strukturen der Gesellschaft & innerhalb der eigenen Projekte notwendig mit ein.
Mir hat besonders dieser Beitrag sehr zu denken gegeben. Als Mensch, der sich emanzipatorisches Denken, Reden/Schreiben & Handeln auf die Fahne geschrieben hat, sollte ich daher immer von denjenigen ausgehen, die der Kapitalismus nicht (mehr) gebrauchen kann. Denn ich wertschätze alle Menschen, während das kapitalistische System nach Nützlicheit selektiert. Flüchtlinge nützen ihm nur insofern, als dass sie - als notgedrungen illegale Arbeitskräfte - das allgemeine Lohnniveau senken helfen. Wer noch nicht mal dazu taugt, hat komplett verloren. Christoph Schlingensief bezieht die Gescheiterten (O-Ton: “Scheitern als Chance”, das Motto seiner Chance 2000-Kampagne) in seinen Aktionen mit ein. Dabei wird ihm immer wieder vorgeworfen, er führe behinderte Menschen öffentlich vor; ich habe das nicht so wahrgenommen. Mein Eindruck ist, dass Schlingensief alle Menschen ernst nimmt, mit denen er arbeitet, & ihnen gerade dadurch eine Chance gibt, die sie sonst nicht gehabt hätten. Er zeigt, dass diese Menschen viel mehr könnten, wenn man sie nur liesse. Das gilt für alle, ob Behinderte, Arbeitslose oder aus anderen Gründen “sozial Schwache”. Damit ist er für mich ein Ansporn, alles was ich tue so zu tun, dass ich niemand damit ausgrenze. Wie das erreichen? Indem ich mich gezielt an unterprivilegierte Menschen wende, mit ihnen in Kontakt komme & bleibe.
Eine Freundin von mir, Astrid Linz, hat ein feines Gespür dafür, wann bestimmte Menschen aus dem Bewusstsein ausgeblendet werden. Sie teilt z.B. ihren Garten mit einer kurdischen Flüchtlingsfamilie & hat sich dafür eingesetzt, dass die Familie in Deutschland bleiben kann. Ich habe Astrid kennen gelernt über die Tauschring-Bewegung, sie betreibt mit anderen zusammen eine Website zum Thema: www.tauschringe.info.
So, das war nur ein kleiner Einblick in das KommuneBuch, das zu lesen sich für alle lohnt, die mehr über Gemeinschaften im Allgemeinen & Kommunen im Besonderen wissen wollen.
Einige Gemeinschaftsprojekte, auf die ich durch das Buch aufmerksam geworden bin & dort vielleicht mal hinfahre, sind:
- Der Finkhof
- Die Hamburger Hafenstrasse
- Die Kommune Feuerland, deren Beitrag zum KommuneBuch übrigens online vorliegt: Radikale Therapie
- Die Basisgemeinde Wulfshagenerhütten
Ganz zum Schluss weise ich noch auf das Projekt A hin, weil es mir in der letzten Zeit öfter begegnet ist: